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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Neben dem einen Zweck der Fortpflanzung spielen
alle anderen Gründe zur Heirat eine geringe Rolle.
Um Geldes willen heiratet der Japaner nicht; ebenso
wenig jedoch aus Liebe. Wohl bringt die Braut neben
dem nötigen Hausrat in der Regel auch eine bestimmte
Summe Geldes mit in ihr neues Heim; aber eine be-
sondere Mitgift, etwa gar ihr entsprechendes Teil von
dem elterlichen Vermögen, erhält sie nicht, da der älteste
Sohn als "Stammhalter" Haupterbe ist. Liebesheiraten
sind verpönt. Daß zwei junge Leute ein Liebesver-
hältnis eingehen mit dem Zweck, sich zu verheiraten,
kennt man in Japan nicht; und wenn es ja einmal
vorkommt, so findet es scharfe Verurteilung. Mir sind
zwei Fälle von Verlöbnissen aus Liebe bekannt geworden,
und zwar aus mir vertrauten christlichen Kreisen; in
dem einen Fall gelang es, die Eltern und Verwandten
zu versöhnen und die Heirat herbeizuführen; in dem
andern aber scheiterte die Verehelichung an dem unbe-
siegbaren Widerstand der einen Familie. Die Be-
stimmung über die Kinder liegt in der Hand der Eltern
und des Familienrats. Die Hauptsache ist nicht, daß
die beiden künftigen Ehegatten, sondern daß die Familien
zu einander passen. Der Japaner hält streng auf
Familienehre. Ein Haus, das irgendwie Anspruch auf
Achtung macht, wird die Verbindung mit einer verrufenen
oder gebrandmarkten Familie ablehnen. Ich habe es
erlebt, daß zwei junge Leute mit Einwilligung der beiden
Familien mit einander verlobt waren; da stellte sich
heraus, daß vor vielen Jahrzehnten ein Großonkel der
Braut an der als unrein gebrandmarkten Krankheit des
Aussatzes gestorben war. Sofort ging das Verlöbnis zurück.

Die Wahl einer passenden Familie ist darum eine
sehr wichtige Aufgabe. Dieselbe fällt, wie überhaupt

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Neben dem einen Zweck der Fortpflanzung ſpielen
alle anderen Gründe zur Heirat eine geringe Rolle.
Um Geldes willen heiratet der Japaner nicht; ebenſo
wenig jedoch aus Liebe. Wohl bringt die Braut neben
dem nötigen Hausrat in der Regel auch eine beſtimmte
Summe Geldes mit in ihr neues Heim; aber eine be-
ſondere Mitgift, etwa gar ihr entſprechendes Teil von
dem elterlichen Vermögen, erhält ſie nicht, da der älteſte
Sohn als „Stammhalter“ Haupterbe iſt. Liebesheiraten
ſind verpönt. Daß zwei junge Leute ein Liebesver-
hältnis eingehen mit dem Zweck, ſich zu verheiraten,
kennt man in Japan nicht; und wenn es ja einmal
vorkommt, ſo findet es ſcharfe Verurteilung. Mir ſind
zwei Fälle von Verlöbniſſen aus Liebe bekannt geworden,
und zwar aus mir vertrauten chriſtlichen Kreiſen; in
dem einen Fall gelang es, die Eltern und Verwandten
zu verſöhnen und die Heirat herbeizuführen; in dem
andern aber ſcheiterte die Verehelichung an dem unbe-
ſiegbaren Widerſtand der einen Familie. Die Be-
ſtimmung über die Kinder liegt in der Hand der Eltern
und des Familienrats. Die Hauptſache iſt nicht, daß
die beiden künftigen Ehegatten, ſondern daß die Familien
zu einander paſſen. Der Japaner hält ſtreng auf
Familienehre. Ein Haus, das irgendwie Anſpruch auf
Achtung macht, wird die Verbindung mit einer verrufenen
oder gebrandmarkten Familie ablehnen. Ich habe es
erlebt, daß zwei junge Leute mit Einwilligung der beiden
Familien mit einander verlobt waren; da ſtellte ſich
heraus, daß vor vielen Jahrzehnten ein Großonkel der
Braut an der als unrein gebrandmarkten Krankheit des
Ausſatzes geſtorben war. Sofort ging das Verlöbnis zurück.

Die Wahl einer paſſenden Familie iſt darum eine
ſehr wichtige Aufgabe. Dieſelbe fällt, wie überhaupt

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[129/0143] Neben dem einen Zweck der Fortpflanzung ſpielen alle anderen Gründe zur Heirat eine geringe Rolle. Um Geldes willen heiratet der Japaner nicht; ebenſo wenig jedoch aus Liebe. Wohl bringt die Braut neben dem nötigen Hausrat in der Regel auch eine beſtimmte Summe Geldes mit in ihr neues Heim; aber eine be- ſondere Mitgift, etwa gar ihr entſprechendes Teil von dem elterlichen Vermögen, erhält ſie nicht, da der älteſte Sohn als „Stammhalter“ Haupterbe iſt. Liebesheiraten ſind verpönt. Daß zwei junge Leute ein Liebesver- hältnis eingehen mit dem Zweck, ſich zu verheiraten, kennt man in Japan nicht; und wenn es ja einmal vorkommt, ſo findet es ſcharfe Verurteilung. Mir ſind zwei Fälle von Verlöbniſſen aus Liebe bekannt geworden, und zwar aus mir vertrauten chriſtlichen Kreiſen; in dem einen Fall gelang es, die Eltern und Verwandten zu verſöhnen und die Heirat herbeizuführen; in dem andern aber ſcheiterte die Verehelichung an dem unbe- ſiegbaren Widerſtand der einen Familie. Die Be- ſtimmung über die Kinder liegt in der Hand der Eltern und des Familienrats. Die Hauptſache iſt nicht, daß die beiden künftigen Ehegatten, ſondern daß die Familien zu einander paſſen. Der Japaner hält ſtreng auf Familienehre. Ein Haus, das irgendwie Anſpruch auf Achtung macht, wird die Verbindung mit einer verrufenen oder gebrandmarkten Familie ablehnen. Ich habe es erlebt, daß zwei junge Leute mit Einwilligung der beiden Familien mit einander verlobt waren; da ſtellte ſich heraus, daß vor vielen Jahrzehnten ein Großonkel der Braut an der als unrein gebrandmarkten Krankheit des Ausſatzes geſtorben war. Sofort ging das Verlöbnis zurück. Die Wahl einer paſſenden Familie iſt darum eine ſehr wichtige Aufgabe. Dieſelbe fällt, wie überhaupt 9

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/143>, abgerufen am 27.04.2024.