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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Religionsurkunden der Semiten wie in den urgeschicht-
lichen Schöpfungen Indiens und Griechenlands. Doch
ermangelt die japanische Realistik wesentlich der sanften
Sinnigkeit und glühenden Phantasie der Semiten, wie
auch der genialen Großartigkeit der Indogermanen.
Sie schwingt sich nicht auf zu reinen Gebilden der
Phantasie, den Boden der Wirklichkeit verliert sie nicht
unter den Füßen. Sie verliert sich darum nicht in
phantastisch unsinnigen Phrasen, wird aber auch nicht
voll gerecht dem Gedankenzug in des Menschen Brust,
welcher über diese Erde hinausdrängt. Der Grieche
sah Leben in jedem Strauch und jedem Halm, der Strahl
der Sonne und das Wehen des Windes, welche ihm
Empfinden verursachen, besitzen selbst Empfindung; der
Semite sah überall die unmittelbare Thätigkeit göttlicher
Persönlichkeiten; und dieses Leben, welches das Auge
des Geistes sah, spiegelte sich wieder in der Sprache.
Für den Japaner aber ist die ganze Natur ein Me-
chanismus, eine gut gehende, aber tote Maschine und
diese Anschauung findet sich als Prosa in seiner Sprache
wieder. Die Sprache hat sich eben mehr unter dem Einfluß
der nüchternen chinesischen Anschauung als unter dem
des naturpersonifizierenden Shintoismus entwickelt; wo-
mit aber nicht gesagt sein soll, daß die mechanische
Weltanschauung dem Japaner rein anerzogen ist; ohne
Zweifel war in ihm von vorn herein eine starke Nei-
gung nach dieser Richtung hin vorhanden. Mit Recht
rühmt man dem Japaner einen sympathischen Zug
für die Natur und ihre Schönheiten nach, was mit der
mechanischen Weltbetrachtung keineswegs in Widerspruch
steht. Aber weder die Millionen von Gedichten, welche
man alljährlich an die blühenden Pflaumenbäume hängt,
noch auch die Thatsache, daß die meisten Japaner,

Religionsurkunden der Semiten wie in den urgeſchicht-
lichen Schöpfungen Indiens und Griechenlands. Doch
ermangelt die japaniſche Realiſtik weſentlich der ſanften
Sinnigkeit und glühenden Phantaſie der Semiten, wie
auch der genialen Großartigkeit der Indogermanen.
Sie ſchwingt ſich nicht auf zu reinen Gebilden der
Phantaſie, den Boden der Wirklichkeit verliert ſie nicht
unter den Füßen. Sie verliert ſich darum nicht in
phantaſtiſch unſinnigen Phraſen, wird aber auch nicht
voll gerecht dem Gedankenzug in des Menſchen Bruſt,
welcher über dieſe Erde hinausdrängt. Der Grieche
ſah Leben in jedem Strauch und jedem Halm, der Strahl
der Sonne und das Wehen des Windes, welche ihm
Empfinden verurſachen, beſitzen ſelbſt Empfindung; der
Semite ſah überall die unmittelbare Thätigkeit göttlicher
Perſönlichkeiten; und dieſes Leben, welches das Auge
des Geiſtes ſah, ſpiegelte ſich wieder in der Sprache.
Für den Japaner aber iſt die ganze Natur ein Me-
chanismus, eine gut gehende, aber tote Maſchine und
dieſe Anſchauung findet ſich als Proſa in ſeiner Sprache
wieder. Die Sprache hat ſich eben mehr unter dem Einfluß
der nüchternen chineſiſchen Anſchauung als unter dem
des naturperſonifizierenden Shintoismus entwickelt; wo-
mit aber nicht geſagt ſein ſoll, daß die mechaniſche
Weltanſchauung dem Japaner rein anerzogen iſt; ohne
Zweifel war in ihm von vorn herein eine ſtarke Nei-
gung nach dieſer Richtung hin vorhanden. Mit Recht
rühmt man dem Japaner einen ſympathiſchen Zug
für die Natur und ihre Schönheiten nach, was mit der
mechaniſchen Weltbetrachtung keineswegs in Widerſpruch
ſteht. Aber weder die Millionen von Gedichten, welche
man alljährlich an die blühenden Pflaumenbäume hängt,
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[30/0044] Religionsurkunden der Semiten wie in den urgeſchicht- lichen Schöpfungen Indiens und Griechenlands. Doch ermangelt die japaniſche Realiſtik weſentlich der ſanften Sinnigkeit und glühenden Phantaſie der Semiten, wie auch der genialen Großartigkeit der Indogermanen. Sie ſchwingt ſich nicht auf zu reinen Gebilden der Phantaſie, den Boden der Wirklichkeit verliert ſie nicht unter den Füßen. Sie verliert ſich darum nicht in phantaſtiſch unſinnigen Phraſen, wird aber auch nicht voll gerecht dem Gedankenzug in des Menſchen Bruſt, welcher über dieſe Erde hinausdrängt. Der Grieche ſah Leben in jedem Strauch und jedem Halm, der Strahl der Sonne und das Wehen des Windes, welche ihm Empfinden verurſachen, beſitzen ſelbſt Empfindung; der Semite ſah überall die unmittelbare Thätigkeit göttlicher Perſönlichkeiten; und dieſes Leben, welches das Auge des Geiſtes ſah, ſpiegelte ſich wieder in der Sprache. Für den Japaner aber iſt die ganze Natur ein Me- chanismus, eine gut gehende, aber tote Maſchine und dieſe Anſchauung findet ſich als Proſa in ſeiner Sprache wieder. Die Sprache hat ſich eben mehr unter dem Einfluß der nüchternen chineſiſchen Anſchauung als unter dem des naturperſonifizierenden Shintoismus entwickelt; wo- mit aber nicht geſagt ſein ſoll, daß die mechaniſche Weltanſchauung dem Japaner rein anerzogen iſt; ohne Zweifel war in ihm von vorn herein eine ſtarke Nei- gung nach dieſer Richtung hin vorhanden. Mit Recht rühmt man dem Japaner einen ſympathiſchen Zug für die Natur und ihre Schönheiten nach, was mit der mechaniſchen Weltbetrachtung keineswegs in Widerſpruch ſteht. Aber weder die Millionen von Gedichten, welche man alljährlich an die blühenden Pflaumenbäume hängt, noch auch die Thatſache, daß die meiſten Japaner,

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/44>, abgerufen am 30.04.2024.