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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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wir die Dächer aller Häuser in Tokyo abhöben, so daß
von oben gesehen auch nicht ein Winkel verborgen bliebe,
und darnach bände man uns Flügel um, und wir flögen
über die Stadt, in jedes Haus hineinschauend, was
würden wir da alles Schlechte sehen"; und nun folgt
eine eingehende Beschreibung dieses Schlechten. Das
Bild wurde aus europäischem Munde scharf getadelt.
"Wozu erst Häuser abdecken und sich Flügel wachsen
lassen, wo man doch einfach per pedes durch die Haus-
thür kann? Das ist höchst albern. Geht hinein in die
Häuser und sehet! würde genügt haben". Gut! Gewiß
aber ist, daß der Missionar sich im Geist der japanischen
Sprache ausgedrückt hat, und daß jene Worte, selbst
in noch breiterer Ausführung, im Munde eines Japaners
für japanische Ohren gut geklungen haben würden.

Schon der Anfang des Gesprächs sowohl als auch
der Rede pflegt auf Kosten des Gedankens breit zu sein.
Der Japaner liebt es, weit auszuholen, ängstlich ver-
meidend, mit der Thür ins Haus zu fallen. Bei einem
Besuch sofort mit seinem wirklichen Anliegen heraus-
zukommen oder bei einer Rede mit dem ersten Wort
in medias res zu gehen, ist beides unjapanisch. Die
Menge von Redensarten, welche dem Japaner über
das Wetter, den Weg und andere naheliegende Dinge
zur Verfügung stehen, rufen manchmal unsere Ver-
wunderung hervor. Wir fragen uns: Warum das
alles? und sind geneigt, es auf die Etiquette als den
Grund zurückzuführen. Daß es auch Etiquette ist,
geben wir zu; daß es nur Etiquette ist, weisen wir
zurück; es ist dem Japaner Bedürfnis. Als ein euro-
päischer Freund nach einer japanischen Versammlung
etwas verwundert zu mir sagte: "Heute fingen alle
Reden mit "konnichi" (heute), "koko" (hier) oder

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wir die Dächer aller Häuſer in Tokyo abhöben, ſo daß
von oben geſehen auch nicht ein Winkel verborgen bliebe,
und darnach bände man uns Flügel um, und wir flögen
über die Stadt, in jedes Haus hineinſchauend, was
würden wir da alles Schlechte ſehen“; und nun folgt
eine eingehende Beſchreibung dieſes Schlechten. Das
Bild wurde aus europäiſchem Munde ſcharf getadelt.
„Wozu erſt Häuſer abdecken und ſich Flügel wachſen
laſſen, wo man doch einfach per pedes durch die Haus-
thür kann? Das iſt höchſt albern. Geht hinein in die
Häuſer und ſehet! würde genügt haben“. Gut! Gewiß
aber iſt, daß der Miſſionar ſich im Geiſt der japaniſchen
Sprache ausgedrückt hat, und daß jene Worte, ſelbſt
in noch breiterer Ausführung, im Munde eines Japaners
für japaniſche Ohren gut geklungen haben würden.

Schon der Anfang des Geſprächs ſowohl als auch
der Rede pflegt auf Koſten des Gedankens breit zu ſein.
Der Japaner liebt es, weit auszuholen, ängſtlich ver-
meidend, mit der Thür ins Haus zu fallen. Bei einem
Beſuch ſofort mit ſeinem wirklichen Anliegen heraus-
zukommen oder bei einer Rede mit dem erſten Wort
in medias res zu gehen, iſt beides unjapaniſch. Die
Menge von Redensarten, welche dem Japaner über
das Wetter, den Weg und andere naheliegende Dinge
zur Verfügung ſtehen, rufen manchmal unſere Ver-
wunderung hervor. Wir fragen uns: Warum das
alles? und ſind geneigt, es auf die Etiquette als den
Grund zurückzuführen. Daß es auch Etiquette iſt,
geben wir zu; daß es nur Etiquette iſt, weiſen wir
zurück; es iſt dem Japaner Bedürfnis. Als ein euro-
päiſcher Freund nach einer japaniſchen Verſammlung
etwas verwundert zu mir ſagte: „Heute fingen alle
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[33/0047] wir die Dächer aller Häuſer in Tokyo abhöben, ſo daß von oben geſehen auch nicht ein Winkel verborgen bliebe, und darnach bände man uns Flügel um, und wir flögen über die Stadt, in jedes Haus hineinſchauend, was würden wir da alles Schlechte ſehen“; und nun folgt eine eingehende Beſchreibung dieſes Schlechten. Das Bild wurde aus europäiſchem Munde ſcharf getadelt. „Wozu erſt Häuſer abdecken und ſich Flügel wachſen laſſen, wo man doch einfach per pedes durch die Haus- thür kann? Das iſt höchſt albern. Geht hinein in die Häuſer und ſehet! würde genügt haben“. Gut! Gewiß aber iſt, daß der Miſſionar ſich im Geiſt der japaniſchen Sprache ausgedrückt hat, und daß jene Worte, ſelbſt in noch breiterer Ausführung, im Munde eines Japaners für japaniſche Ohren gut geklungen haben würden. Schon der Anfang des Geſprächs ſowohl als auch der Rede pflegt auf Koſten des Gedankens breit zu ſein. Der Japaner liebt es, weit auszuholen, ängſtlich ver- meidend, mit der Thür ins Haus zu fallen. Bei einem Beſuch ſofort mit ſeinem wirklichen Anliegen heraus- zukommen oder bei einer Rede mit dem erſten Wort in medias res zu gehen, iſt beides unjapaniſch. Die Menge von Redensarten, welche dem Japaner über das Wetter, den Weg und andere naheliegende Dinge zur Verfügung ſtehen, rufen manchmal unſere Ver- wunderung hervor. Wir fragen uns: Warum das alles? und ſind geneigt, es auf die Etiquette als den Grund zurückzuführen. Daß es auch Etiquette iſt, geben wir zu; daß es nur Etiquette iſt, weiſen wir zurück; es iſt dem Japaner Bedürfnis. Als ein euro- päiſcher Freund nach einer japaniſchen Verſammlung etwas verwundert zu mir ſagte: „Heute fingen alle Reden mit „konnichi“ (heute), „koko“ (hier) oder 3

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/47>, abgerufen am 30.04.2024.