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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Wahrheit zu machen gestrebt: dem verderblichen "inneren
Kriege" der Stände und Klassen gedachten sie vorzubauen
durch die einheitliche Grundlegung eines "nationalen",
d. h. die ganze Nation umfassenden Bildungswesens. Das
ist leider sehr in Vergessenheit geraten; heute ist es nicht
selten ausgesprochener Grundsatz, und weit häufiger wird still-
schweigend danach gehandelt, dass die "höhere" Schule das
Vorrecht der "höheren" d. i. zahlungsfähigeren Klassen sei;
dass in Rücksicht gerade auf die sozialen Unterschiede mög-
lichst von Anfang an getrennte Schulen existieren müssen.
Das ist ebenso naiv wie der Anspruch, weil man hat, desto
mehr zu erhalten, desto grössere Vorteile sogar aus den ge-
meinen
Gütern der Nation ziehen zu dürfen. Die "Volks-
schule", die ihrer Bestimmung nach die Nationalschule hatte
sein sollen, ist dadurch herabgedrückt zur Schule der untern
Volksschichten, zur Proletarierschule, nicht selten geradezu
zur Armenschule. Eine Aenderung darin ist nicht zu er-
warten, so lange das Interesse eben derer, durch die sie zu
bewirken wäre, sich der Volksschule nicht nur nicht zu-
wendet, sondern gar ein entgegengesetztes Interesse an der
geistigen Kurzhaltung der Massen sich unverhüllt ausspricht.
Die Folge ist, dass das Kind sogar durch die Schule selbst
darauf hingewiesen wird, sich als Angehörigen der bevor-
rechteten weil besitzenden, oder aber der benachteiligten weil
nichtbesitzenden Klasse zu fühlen, m. a. W., dass die Schule
selbst jenen zerstörenden "inneren Krieg", den sie hatte aus-
rotten sollen, nur schüren und von Geschlecht zu Geschlecht
in wachsender Progression fortpflanzen hilft.

Soll das vermieden werden, so muss die Volksschule zu
dem thatsächlich werden, was sie dem Prinzip nach doch hat sein
sollen, zur allgemeinen obligatorischen Schule für alle. Und
zwar dürfte und sollte sich der pflichtmässige Besuch der all-
gemeinen Volksschule auf einen vollen, in sich abgeschlossenen
Kursus von (sage) sechs Jahren erstrecken. Man träte dann
normal mit zwölf Jahren in eine oder die andere höhere Schule
über; nicht beliebig in die eine oder andre, sondern streng
nach den Leistungen in der Primärschule. Für alle höheren

Wahrheit zu machen gestrebt: dem verderblichen „inneren
Kriege“ der Stände und Klassen gedachten sie vorzubauen
durch die einheitliche Grundlegung eines „nationalen“,
d. h. die ganze Nation umfassenden Bildungswesens. Das
ist leider sehr in Vergessenheit geraten; heute ist es nicht
selten ausgesprochener Grundsatz, und weit häufiger wird still-
schweigend danach gehandelt, dass die „höhere“ Schule das
Vorrecht der „höheren“ d. i. zahlungsfähigeren Klassen sei;
dass in Rücksicht gerade auf die sozialen Unterschiede mög-
lichst von Anfang an getrennte Schulen existieren müssen.
Das ist ebenso naiv wie der Anspruch, weil man hat, desto
mehr zu erhalten, desto grössere Vorteile sogar aus den ge-
meinen
Gütern der Nation ziehen zu dürfen. Die „Volks-
schule“, die ihrer Bestimmung nach die Nationalschule hatte
sein sollen, ist dadurch herabgedrückt zur Schule der untern
Volksschichten, zur Proletarierschule, nicht selten geradezu
zur Armenschule. Eine Aenderung darin ist nicht zu er-
warten, so lange das Interesse eben derer, durch die sie zu
bewirken wäre, sich der Volksschule nicht nur nicht zu-
wendet, sondern gar ein entgegengesetztes Interesse an der
geistigen Kurzhaltung der Massen sich unverhüllt ausspricht.
Die Folge ist, dass das Kind sogar durch die Schule selbst
darauf hingewiesen wird, sich als Angehörigen der bevor-
rechteten weil besitzenden, oder aber der benachteiligten weil
nichtbesitzenden Klasse zu fühlen, m. a. W., dass die Schule
selbst jenen zerstörenden „inneren Krieg“, den sie hatte aus-
rotten sollen, nur schüren und von Geschlecht zu Geschlecht
in wachsender Progression fortpflanzen hilft.

Soll das vermieden werden, so muss die Volksschule zu
dem thatsächlich werden, was sie dem Prinzip nach doch hat sein
sollen, zur allgemeinen obligatorischen Schule für alle. Und
zwar dürfte und sollte sich der pflichtmässige Besuch der all-
gemeinen Volksschule auf einen vollen, in sich abgeschlossenen
Kursus von (sage) sechs Jahren erstrecken. Man träte dann
normal mit zwölf Jahren in eine oder die andere höhere Schule
über; nicht beliebig in die eine oder andre, sondern streng
nach den Leistungen in der Primärschule. Für alle höheren

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[211/0227] Wahrheit zu machen gestrebt: dem verderblichen „inneren Kriege“ der Stände und Klassen gedachten sie vorzubauen durch die einheitliche Grundlegung eines „nationalen“, d. h. die ganze Nation umfassenden Bildungswesens. Das ist leider sehr in Vergessenheit geraten; heute ist es nicht selten ausgesprochener Grundsatz, und weit häufiger wird still- schweigend danach gehandelt, dass die „höhere“ Schule das Vorrecht der „höheren“ d. i. zahlungsfähigeren Klassen sei; dass in Rücksicht gerade auf die sozialen Unterschiede mög- lichst von Anfang an getrennte Schulen existieren müssen. Das ist ebenso naiv wie der Anspruch, weil man hat, desto mehr zu erhalten, desto grössere Vorteile sogar aus den ge- meinen Gütern der Nation ziehen zu dürfen. Die „Volks- schule“, die ihrer Bestimmung nach die Nationalschule hatte sein sollen, ist dadurch herabgedrückt zur Schule der untern Volksschichten, zur Proletarierschule, nicht selten geradezu zur Armenschule. Eine Aenderung darin ist nicht zu er- warten, so lange das Interesse eben derer, durch die sie zu bewirken wäre, sich der Volksschule nicht nur nicht zu- wendet, sondern gar ein entgegengesetztes Interesse an der geistigen Kurzhaltung der Massen sich unverhüllt ausspricht. Die Folge ist, dass das Kind sogar durch die Schule selbst darauf hingewiesen wird, sich als Angehörigen der bevor- rechteten weil besitzenden, oder aber der benachteiligten weil nichtbesitzenden Klasse zu fühlen, m. a. W., dass die Schule selbst jenen zerstörenden „inneren Krieg“, den sie hatte aus- rotten sollen, nur schüren und von Geschlecht zu Geschlecht in wachsender Progression fortpflanzen hilft. Soll das vermieden werden, so muss die Volksschule zu dem thatsächlich werden, was sie dem Prinzip nach doch hat sein sollen, zur allgemeinen obligatorischen Schule für alle. Und zwar dürfte und sollte sich der pflichtmässige Besuch der all- gemeinen Volksschule auf einen vollen, in sich abgeschlossenen Kursus von (sage) sechs Jahren erstrecken. Man träte dann normal mit zwölf Jahren in eine oder die andere höhere Schule über; nicht beliebig in die eine oder andre, sondern streng nach den Leistungen in der Primärschule. Für alle höheren

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/227>, abgerufen am 28.04.2024.