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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Nach dieser grundsätzlichen Auffassung wären wir von
"erziehendem Unterricht" ebensowohl wie Herbart und seine
Schule zu reden berechtigt. Aber wir möchten mit dieser
Schule nicht verwechselt werden. Auch wir "gestehen", wie
Herbart, "keinen Begriff zu haben von Erziehung ohne Unter-
richt", und erkennen, wie er, "auch rückwärts keinen Unter-
richt" an, "der nicht erzieht"; wo anerkennen so viel besagen
muss wie gutheissen, denn dass ein nichterziehender Unterricht
möglich sei, ist doch auch Herbarts Meinung. Nicht zustimmen
können wir dagegen der Begründung dieser behaupteten Ein-
heit von Unterricht und Erziehung durch den Satz, dass "aus
Gedanken Empfindungen und daraus Grundsätze und Hand-
lungsweisen werden", oder, wie ein jüngerer Herbartianer (Rein,
im Encykl. Handb. II, Art. "Erziehender Unterricht", S. 2) es
schärfer noch und unzweideutiger ausdrückt, "das Vorstellungs-
leben eines Menschen seine Entschliessungen determiniert."
Wir teilen die Meinung nicht, dass aus dem blossen Wissen --
zwar nicht aus jedem, sondern nur einem bestimmt gearteten,
aber doch ohne irgend einen weiteren psychischen Fak-
tor
-- das Wollen resultiere. Und wenn als mitwirkend immer-
hin die "Empfindung", das Interesse, die Lust und Liebe, d. h.
zuletzt das Gefühl anerkannt wird, so soll doch, nach Herbart
und den Seinen, dieses ebenfalls aus blossen Vorstellungsver-
hältnissen, ohne Hinzutritt eines neuen Faktors, resultieren.
Selbst wenn dies nicht die Meinung wäre, könnten wir uns
nicht dazu verstehen, dass Vorstellung plus Gefühl den Willen
mache (vergl. § 7); ferner nicht dazu, dass das sittliche "Inter-
esse" bloss eines neben vielen, wenn auch in der Reihe der
Interessen das vorzüglichste sei. Sondern das Wollen bleibt
uns etwas Eigenes, welches in dem, was man Interesse nennt,
vielleicht schon keimhaft zu Grunde liegt und eigentlich es
regiert, nicht umgekehrt aus ihm sich herleitet. Fürs Wollen
aber ist das sittliche Gesetz in dem Sinne, und nicht bloss
abgeleiteterweise, bestimmend, dass sich allein in Gemässheit
seiner alles besondere Wollen unter die Einheit eines be-
herrschenden Wollens fügt. Diese notwendige Einheit des
Wollens lehnt Herbart ausdrücklich ab, und so bleibt seine

Nach dieser grundsätzlichen Auffassung wären wir von
„erziehendem Unterricht“ ebensowohl wie Herbart und seine
Schule zu reden berechtigt. Aber wir möchten mit dieser
Schule nicht verwechselt werden. Auch wir „gestehen“, wie
Herbart, „keinen Begriff zu haben von Erziehung ohne Unter-
richt“, und erkennen, wie er, „auch rückwärts keinen Unter-
richt“ an, „der nicht erzieht“; wo anerkennen so viel besagen
muss wie gutheissen, denn dass ein nichterziehender Unterricht
möglich sei, ist doch auch Herbarts Meinung. Nicht zustimmen
können wir dagegen der Begründung dieser behaupteten Ein-
heit von Unterricht und Erziehung durch den Satz, dass „aus
Gedanken Empfindungen und daraus Grundsätze und Hand-
lungsweisen werden“, oder, wie ein jüngerer Herbartianer (Rein,
im Encykl. Handb. II, Art. „Erziehender Unterricht“, S. 2) es
schärfer noch und unzweideutiger ausdrückt, „das Vorstellungs-
leben eines Menschen seine Entschliessungen determiniert.“
Wir teilen die Meinung nicht, dass aus dem blossen Wissen —
zwar nicht aus jedem, sondern nur einem bestimmt gearteten,
aber doch ohne irgend einen weiteren psychischen Fak-
tor
— das Wollen resultiere. Und wenn als mitwirkend immer-
hin die „Empfindung“, das Interesse, die Lust und Liebe, d. h.
zuletzt das Gefühl anerkannt wird, so soll doch, nach Herbart
und den Seinen, dieses ebenfalls aus blossen Vorstellungsver-
hältnissen, ohne Hinzutritt eines neuen Faktors, resultieren.
Selbst wenn dies nicht die Meinung wäre, könnten wir uns
nicht dazu verstehen, dass Vorstellung plus Gefühl den Willen
mache (vergl. § 7); ferner nicht dazu, dass das sittliche „Inter-
esse“ bloss eines neben vielen, wenn auch in der Reihe der
Interessen das vorzüglichste sei. Sondern das Wollen bleibt
uns etwas Eigenes, welches in dem, was man Interesse nennt,
vielleicht schon keimhaft zu Grunde liegt und eigentlich es
regiert, nicht umgekehrt aus ihm sich herleitet. Fürs Wollen
aber ist das sittliche Gesetz in dem Sinne, und nicht bloss
abgeleiteterweise, bestimmend, dass sich allein in Gemässheit
seiner alles besondere Wollen unter die Einheit eines be-
herrschenden Wollens fügt. Diese notwendige Einheit des
Wollens lehnt Herbart ausdrücklich ab, und so bleibt seine

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[271/0287] Nach dieser grundsätzlichen Auffassung wären wir von „erziehendem Unterricht“ ebensowohl wie Herbart und seine Schule zu reden berechtigt. Aber wir möchten mit dieser Schule nicht verwechselt werden. Auch wir „gestehen“, wie Herbart, „keinen Begriff zu haben von Erziehung ohne Unter- richt“, und erkennen, wie er, „auch rückwärts keinen Unter- richt“ an, „der nicht erzieht“; wo anerkennen so viel besagen muss wie gutheissen, denn dass ein nichterziehender Unterricht möglich sei, ist doch auch Herbarts Meinung. Nicht zustimmen können wir dagegen der Begründung dieser behaupteten Ein- heit von Unterricht und Erziehung durch den Satz, dass „aus Gedanken Empfindungen und daraus Grundsätze und Hand- lungsweisen werden“, oder, wie ein jüngerer Herbartianer (Rein, im Encykl. Handb. II, Art. „Erziehender Unterricht“, S. 2) es schärfer noch und unzweideutiger ausdrückt, „das Vorstellungs- leben eines Menschen seine Entschliessungen determiniert.“ Wir teilen die Meinung nicht, dass aus dem blossen Wissen — zwar nicht aus jedem, sondern nur einem bestimmt gearteten, aber doch ohne irgend einen weiteren psychischen Fak- tor — das Wollen resultiere. Und wenn als mitwirkend immer- hin die „Empfindung“, das Interesse, die Lust und Liebe, d. h. zuletzt das Gefühl anerkannt wird, so soll doch, nach Herbart und den Seinen, dieses ebenfalls aus blossen Vorstellungsver- hältnissen, ohne Hinzutritt eines neuen Faktors, resultieren. Selbst wenn dies nicht die Meinung wäre, könnten wir uns nicht dazu verstehen, dass Vorstellung plus Gefühl den Willen mache (vergl. § 7); ferner nicht dazu, dass das sittliche „Inter- esse“ bloss eines neben vielen, wenn auch in der Reihe der Interessen das vorzüglichste sei. Sondern das Wollen bleibt uns etwas Eigenes, welches in dem, was man Interesse nennt, vielleicht schon keimhaft zu Grunde liegt und eigentlich es regiert, nicht umgekehrt aus ihm sich herleitet. Fürs Wollen aber ist das sittliche Gesetz in dem Sinne, und nicht bloss abgeleiteterweise, bestimmend, dass sich allein in Gemässheit seiner alles besondere Wollen unter die Einheit eines be- herrschenden Wollens fügt. Diese notwendige Einheit des Wollens lehnt Herbart ausdrücklich ab, und so bleibt seine

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/287>, abgerufen am 27.04.2024.