Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

keiten übte, wenn nicht der Besitz der höchsten Gewalt
und Regierung an sich eine in alle Verhältnisse eingrei-
fende und viele tausend Einzelne überwältigende Macht
wäre, die gewöhnlich, wenn auch nicht durch ein stehen-
des Heer geschützt, nur wenn sie über ihre eigne Macht
irre wird, ohne Gewaltsamkeit fällt.

Sich keine Gewaltsamkeit zu erlauben war, so lange
der Stände Mißverhältniß währte, eine unverbrüchliche
Maxime des Volks, und dieser Tribunen deren Nah-
men Wohlgesinnte und Uebelmeinende zur Bezeichnung
verwüstender Demagogen mißbraucht haben. Den fried-
lichen Charakter ihrer Widersetzung bezeichnet das Wort
Sedition, Absonderung. Der Römer strenge Religiosität
hemmte die Ausbrüche des Unwillens gegen die Personen
des herrschenden Priesterstands: die höchsten Wünsche
konnten nur fordern von ihm nicht unterdrückt, und ihm
bürgerlich gleich zu seyn; nie, nach der griechischen Re-
publiken Art, Rache zu nehmen und zu vertilgen. Ein
Jahrhundert verging, nachdem schon der Freyheit Grund
gelegt war, ehe der einzelne Plebejer sich dem Patricier
ganz gleich fühlte. Persönliche Verbindungen und Rück-
sichten mochten manche Tribunen und viele aus der Ge-
meinde läßig machen: und der römische Charakter der
Bedächtigkeit und Vorsicht, wie er sich neben Kühnheit
und Ausdauer in den Kriegen zeigt, machte auch die
Fortschritte der Freyheit sehr langsam. Die Führer des
Volks ließen jedes neuerworbene Recht zur Gewöhnung
werden ehe sie weiter hinaus neue Eroberungen versuch-
ten. So vergingen neun Jahre nach der Annahme des

keiten uͤbte, wenn nicht der Beſitz der hoͤchſten Gewalt
und Regierung an ſich eine in alle Verhaͤltniſſe eingrei-
fende und viele tauſend Einzelne uͤberwaͤltigende Macht
waͤre, die gewoͤhnlich, wenn auch nicht durch ein ſtehen-
des Heer geſchuͤtzt, nur wenn ſie uͤber ihre eigne Macht
irre wird, ohne Gewaltſamkeit faͤllt.

Sich keine Gewaltſamkeit zu erlauben war, ſo lange
der Staͤnde Mißverhaͤltniß waͤhrte, eine unverbruͤchliche
Maxime des Volks, und dieſer Tribunen deren Nah-
men Wohlgeſinnte und Uebelmeinende zur Bezeichnung
verwuͤſtender Demagogen mißbraucht haben. Den fried-
lichen Charakter ihrer Widerſetzung bezeichnet das Wort
Sedition, Abſonderung. Der Roͤmer ſtrenge Religioſitaͤt
hemmte die Ausbruͤche des Unwillens gegen die Perſonen
des herrſchenden Prieſterſtands: die hoͤchſten Wuͤnſche
konnten nur fordern von ihm nicht unterdruͤckt, und ihm
buͤrgerlich gleich zu ſeyn; nie, nach der griechiſchen Re-
publiken Art, Rache zu nehmen und zu vertilgen. Ein
Jahrhundert verging, nachdem ſchon der Freyheit Grund
gelegt war, ehe der einzelne Plebejer ſich dem Patricier
ganz gleich fuͤhlte. Perſoͤnliche Verbindungen und Ruͤck-
ſichten mochten manche Tribunen und viele aus der Ge-
meinde laͤßig machen: und der roͤmiſche Charakter der
Bedaͤchtigkeit und Vorſicht, wie er ſich neben Kuͤhnheit
und Ausdauer in den Kriegen zeigt, machte auch die
Fortſchritte der Freyheit ſehr langſam. Die Fuͤhrer des
Volks ließen jedes neuerworbene Recht zur Gewoͤhnung
werden ehe ſie weiter hinaus neue Eroberungen verſuch-
ten. So vergingen neun Jahre nach der Annahme des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0061" n="45"/>
keiten u&#x0364;bte, wenn nicht der Be&#x017F;itz der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Gewalt<lb/>
und Regierung an &#x017F;ich eine in alle Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e eingrei-<lb/>
fende und viele tau&#x017F;end Einzelne u&#x0364;berwa&#x0364;ltigende Macht<lb/>
wa&#x0364;re, die gewo&#x0364;hnlich, wenn auch nicht durch ein &#x017F;tehen-<lb/>
des Heer ge&#x017F;chu&#x0364;tzt, nur wenn &#x017F;ie u&#x0364;ber ihre eigne Macht<lb/>
irre wird, ohne Gewalt&#x017F;amkeit fa&#x0364;llt.</p><lb/>
        <p>Sich keine Gewalt&#x017F;amkeit zu erlauben war, &#x017F;o lange<lb/>
der Sta&#x0364;nde Mißverha&#x0364;ltniß wa&#x0364;hrte, eine unverbru&#x0364;chliche<lb/>
Maxime des Volks, und die&#x017F;er Tribunen deren Nah-<lb/>
men Wohlge&#x017F;innte und Uebelmeinende zur Bezeichnung<lb/>
verwu&#x0364;&#x017F;tender Demagogen mißbraucht haben. Den fried-<lb/>
lichen Charakter ihrer Wider&#x017F;etzung bezeichnet das Wort<lb/>
Sedition, Ab&#x017F;onderung. Der Ro&#x0364;mer &#x017F;trenge Religio&#x017F;ita&#x0364;t<lb/>
hemmte die Ausbru&#x0364;che des Unwillens gegen die Per&#x017F;onen<lb/>
des herr&#x017F;chenden Prie&#x017F;ter&#x017F;tands: die ho&#x0364;ch&#x017F;ten Wu&#x0364;n&#x017F;che<lb/>
konnten nur fordern von ihm nicht unterdru&#x0364;ckt, und ihm<lb/>
bu&#x0364;rgerlich gleich zu &#x017F;eyn; nie, nach der griechi&#x017F;chen Re-<lb/>
publiken Art, Rache zu nehmen und zu vertilgen. Ein<lb/>
Jahrhundert verging, nachdem &#x017F;chon der Freyheit Grund<lb/>
gelegt war, ehe der einzelne Plebejer &#x017F;ich dem Patricier<lb/>
ganz gleich fu&#x0364;hlte. Per&#x017F;o&#x0364;nliche Verbindungen und Ru&#x0364;ck-<lb/>
&#x017F;ichten mochten manche Tribunen und viele aus der Ge-<lb/>
meinde la&#x0364;ßig machen: und der ro&#x0364;mi&#x017F;che Charakter der<lb/>
Beda&#x0364;chtigkeit und Vor&#x017F;icht, wie er &#x017F;ich neben Ku&#x0364;hnheit<lb/>
und Ausdauer in den Kriegen zeigt, machte auch die<lb/>
Fort&#x017F;chritte der Freyheit &#x017F;ehr lang&#x017F;am. Die Fu&#x0364;hrer des<lb/>
Volks ließen jedes neuerworbene Recht zur Gewo&#x0364;hnung<lb/>
werden ehe &#x017F;ie weiter hinaus neue Eroberungen ver&#x017F;uch-<lb/>
ten. So vergingen neun Jahre nach der Annahme des<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[45/0061] keiten uͤbte, wenn nicht der Beſitz der hoͤchſten Gewalt und Regierung an ſich eine in alle Verhaͤltniſſe eingrei- fende und viele tauſend Einzelne uͤberwaͤltigende Macht waͤre, die gewoͤhnlich, wenn auch nicht durch ein ſtehen- des Heer geſchuͤtzt, nur wenn ſie uͤber ihre eigne Macht irre wird, ohne Gewaltſamkeit faͤllt. Sich keine Gewaltſamkeit zu erlauben war, ſo lange der Staͤnde Mißverhaͤltniß waͤhrte, eine unverbruͤchliche Maxime des Volks, und dieſer Tribunen deren Nah- men Wohlgeſinnte und Uebelmeinende zur Bezeichnung verwuͤſtender Demagogen mißbraucht haben. Den fried- lichen Charakter ihrer Widerſetzung bezeichnet das Wort Sedition, Abſonderung. Der Roͤmer ſtrenge Religioſitaͤt hemmte die Ausbruͤche des Unwillens gegen die Perſonen des herrſchenden Prieſterſtands: die hoͤchſten Wuͤnſche konnten nur fordern von ihm nicht unterdruͤckt, und ihm buͤrgerlich gleich zu ſeyn; nie, nach der griechiſchen Re- publiken Art, Rache zu nehmen und zu vertilgen. Ein Jahrhundert verging, nachdem ſchon der Freyheit Grund gelegt war, ehe der einzelne Plebejer ſich dem Patricier ganz gleich fuͤhlte. Perſoͤnliche Verbindungen und Ruͤck- ſichten mochten manche Tribunen und viele aus der Ge- meinde laͤßig machen: und der roͤmiſche Charakter der Bedaͤchtigkeit und Vorſicht, wie er ſich neben Kuͤhnheit und Ausdauer in den Kriegen zeigt, machte auch die Fortſchritte der Freyheit ſehr langſam. Die Fuͤhrer des Volks ließen jedes neuerworbene Recht zur Gewoͤhnung werden ehe ſie weiter hinaus neue Eroberungen verſuch- ten. So vergingen neun Jahre nach der Annahme des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/61
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/61>, abgerufen am 30.04.2024.