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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

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was die Sendung nach Athen betrifft, verdächtig ist,
weil andre durch die Chronologie als unmöglich darge-
thane Erzählungen die römischen Annalisten eines leicht-
sinnigen Hanges zeihen, dunkle Sagen die sich auf Grie-
chen bezogen an das in ihren Tagen berühmteste dieses
Volks anzuknüpfen, unbesorgt ob sich dieses rechtfertige.
An sich wäre die Sage nicht unglaublich; denn Athen
war, nicht so gar lange nachher, nicht ohne Verbindung
mit Tyrrhenien 71): es blühte eben damals, zwischen dem
persischen und dem peloponnesischen Kriege, im höchsten
Glanz des Ruhms und des Glücks, und wenn die
Schranken gefallen waren welche früher den Mißbrauch
der Volksfreyheit unmöglich machten, so waren sie doch
noch immer im wesentlichen durch gute Sitte ersetzt. Die
angebliche Verwandtschaft Solonischer Gesetze und einiger
von den Tafeln gewährt keinen Beweis; der eigenthüm-
liche Charakter beyder Gesetzgebungen ist so verschieden
wie der Völker für die sie geschrieben wurden; und die
wenigen Aehnlichkeiten in Nebensachen scheinen entweder
zufällig, oder in einer allgemeineren Verwandtschaft be-
gründet, wie man andre in den Gesetzen von Völkern die
Rom und Griechenland ganz fremd scheinen nachweisen
kann: oder sie können aus den Gesetzen italiotischer Städte
entnommen seyn, wo Charondas nicht ohne Kenntniß der
solonischen Gesetze das Thurische Volk geordnet hatte.


71) Im sicilischen Kriege liehen Tyrrhener den Athenien-
sern Beystand, Thukydides VII c. 53. 68. und Plato er-
laubt die Annahme tyrrhenischer Religionsgebräuche. De
legibus V. p. 738. c.

was die Sendung nach Athen betrifft, verdaͤchtig iſt,
weil andre durch die Chronologie als unmoͤglich darge-
thane Erzaͤhlungen die roͤmiſchen Annaliſten eines leicht-
ſinnigen Hanges zeihen, dunkle Sagen die ſich auf Grie-
chen bezogen an das in ihren Tagen beruͤhmteſte dieſes
Volks anzuknuͤpfen, unbeſorgt ob ſich dieſes rechtfertige.
An ſich waͤre die Sage nicht unglaublich; denn Athen
war, nicht ſo gar lange nachher, nicht ohne Verbindung
mit Tyrrhenien 71): es bluͤhte eben damals, zwiſchen dem
perſiſchen und dem peloponneſiſchen Kriege, im hoͤchſten
Glanz des Ruhms und des Gluͤcks, und wenn die
Schranken gefallen waren welche fruͤher den Mißbrauch
der Volksfreyheit unmoͤglich machten, ſo waren ſie doch
noch immer im weſentlichen durch gute Sitte erſetzt. Die
angebliche Verwandtſchaft Soloniſcher Geſetze und einiger
von den Tafeln gewaͤhrt keinen Beweis; der eigenthuͤm-
liche Charakter beyder Geſetzgebungen iſt ſo verſchieden
wie der Voͤlker fuͤr die ſie geſchrieben wurden; und die
wenigen Aehnlichkeiten in Nebenſachen ſcheinen entweder
zufaͤllig, oder in einer allgemeineren Verwandtſchaft be-
gruͤndet, wie man andre in den Geſetzen von Voͤlkern die
Rom und Griechenland ganz fremd ſcheinen nachweiſen
kann: oder ſie koͤnnen aus den Geſetzen italiotiſcher Staͤdte
entnommen ſeyn, wo Charondas nicht ohne Kenntniß der
ſoloniſchen Geſetze das Thuriſche Volk geordnet hatte.


71) Im ſiciliſchen Kriege liehen Tyrrhener den Athenien-
ſern Beyſtand, Thukydides VII c. 53. 68. und Plato er-
laubt die Annahme tyrrheniſcher Religionsgebraͤuche. De
legibus V. p. 738. c.
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[68/0084] was die Sendung nach Athen betrifft, verdaͤchtig iſt, weil andre durch die Chronologie als unmoͤglich darge- thane Erzaͤhlungen die roͤmiſchen Annaliſten eines leicht- ſinnigen Hanges zeihen, dunkle Sagen die ſich auf Grie- chen bezogen an das in ihren Tagen beruͤhmteſte dieſes Volks anzuknuͤpfen, unbeſorgt ob ſich dieſes rechtfertige. An ſich waͤre die Sage nicht unglaublich; denn Athen war, nicht ſo gar lange nachher, nicht ohne Verbindung mit Tyrrhenien 71): es bluͤhte eben damals, zwiſchen dem perſiſchen und dem peloponneſiſchen Kriege, im hoͤchſten Glanz des Ruhms und des Gluͤcks, und wenn die Schranken gefallen waren welche fruͤher den Mißbrauch der Volksfreyheit unmoͤglich machten, ſo waren ſie doch noch immer im weſentlichen durch gute Sitte erſetzt. Die angebliche Verwandtſchaft Soloniſcher Geſetze und einiger von den Tafeln gewaͤhrt keinen Beweis; der eigenthuͤm- liche Charakter beyder Geſetzgebungen iſt ſo verſchieden wie der Voͤlker fuͤr die ſie geſchrieben wurden; und die wenigen Aehnlichkeiten in Nebenſachen ſcheinen entweder zufaͤllig, oder in einer allgemeineren Verwandtſchaft be- gruͤndet, wie man andre in den Geſetzen von Voͤlkern die Rom und Griechenland ganz fremd ſcheinen nachweiſen kann: oder ſie koͤnnen aus den Geſetzen italiotiſcher Staͤdte entnommen ſeyn, wo Charondas nicht ohne Kenntniß der ſoloniſchen Geſetze das Thuriſche Volk geordnet hatte. 71) Im ſiciliſchen Kriege liehen Tyrrhener den Athenien- ſern Beyſtand, Thukydides VII c. 53. 68. und Plato er- laubt die Annahme tyrrheniſcher Religionsgebraͤuche. De legibus V. p. 738. c.

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/84>, abgerufen am 30.04.2024.