Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Noch vor der Decemviralgesetzgebung gewann die
persönliche Freyheit eine große Befestigung durch die
Bestimmung des Maaßes der von der höchsten Obrigkeit
aus Machtvollkommenheit ausgesprochenen Strafen. Die
alten Völker waren weit entfernt es für möglich, oder
auch nur für wünschenswerth zu halten die unzulässigen
Handlungen gesetzlich mit ihren Strafen so zu verzeichnen,
daß, wie in einem Zollregister, die nicht aufgeführten für
frey gelten, und einer jeden verbotnen eine bestimmt an-
wendbare Strafe vorgeschrieben steht. Sie hielten dies
verderblich für die Sitten, für die Freyheit gar nicht we-
sentlich, wohl aber eine freye und unabhängige Einrich-
tung der Gerichte: sie urtheilten, daß zwar die meisten
Vergehungen des gewöhnlichen bürgerlichen Lebens einer
unveränderlichen Strafe als Sühnung fähig wären; daß
bey einigen Verbrechen die Ausrottung des Sünders
nothwendig sey: daß aber die Uebergehung in den Straf-
gesetzen kein Grund der Straflosigkeit seyn dürfe, und
daß sehr viele Vergehungen schlechterdings nur nach den
Umständen auf ganz verschiedene Weise geahndet werden
könnten. So bestimmten die Atheniensischen Volksgerichte
in sehr vielen Fällen die Art und den Grad der Strafen,
und so thaten es in einigen die Comitien der Tribus in den
freyeren Zeiten der römischen Verfassung: doch diese fast
nur da wo die Majestät des Staats, und die Würde der
Bürger betroffen war. Auch war es eine Handlung der
souverainen Macht welche von ihnen ausgeübt ward in-
dem sie eine Mult aussprachen: die Tribunen und
Volksädilen, als Minister des Volks, konnten es nicht:

Noch vor der Decemviralgeſetzgebung gewann die
perſoͤnliche Freyheit eine große Befeſtigung durch die
Beſtimmung des Maaßes der von der hoͤchſten Obrigkeit
aus Machtvollkommenheit ausgeſprochenen Strafen. Die
alten Voͤlker waren weit entfernt es fuͤr moͤglich, oder
auch nur fuͤr wuͤnſchenswerth zu halten die unzulaͤſſigen
Handlungen geſetzlich mit ihren Strafen ſo zu verzeichnen,
daß, wie in einem Zollregiſter, die nicht aufgefuͤhrten fuͤr
frey gelten, und einer jeden verbotnen eine beſtimmt an-
wendbare Strafe vorgeſchrieben ſteht. Sie hielten dies
verderblich fuͤr die Sitten, fuͤr die Freyheit gar nicht we-
ſentlich, wohl aber eine freye und unabhaͤngige Einrich-
tung der Gerichte: ſie urtheilten, daß zwar die meiſten
Vergehungen des gewoͤhnlichen buͤrgerlichen Lebens einer
unveraͤnderlichen Strafe als Suͤhnung faͤhig waͤren; daß
bey einigen Verbrechen die Ausrottung des Suͤnders
nothwendig ſey: daß aber die Uebergehung in den Straf-
geſetzen kein Grund der Strafloſigkeit ſeyn duͤrfe, und
daß ſehr viele Vergehungen ſchlechterdings nur nach den
Umſtaͤnden auf ganz verſchiedene Weiſe geahndet werden
koͤnnten. So beſtimmten die Athenienſiſchen Volksgerichte
in ſehr vielen Faͤllen die Art und den Grad der Strafen,
und ſo thaten es in einigen die Comitien der Tribus in den
freyeren Zeiten der roͤmiſchen Verfaſſung: doch dieſe faſt
nur da wo die Majeſtaͤt des Staats, und die Wuͤrde der
Buͤrger betroffen war. Auch war es eine Handlung der
ſouverainen Macht welche von ihnen ausgeuͤbt ward in-
dem ſie eine Mult ausſprachen: die Tribunen und
Volksaͤdilen, als Miniſter des Volks, konnten es nicht:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0085" n="69"/>
        <p>Noch vor der Decemviralge&#x017F;etzgebung gewann die<lb/>
per&#x017F;o&#x0364;nliche Freyheit eine große Befe&#x017F;tigung durch die<lb/>
Be&#x017F;timmung des Maaßes der von der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Obrigkeit<lb/>
aus Machtvollkommenheit ausge&#x017F;prochenen Strafen. Die<lb/>
alten Vo&#x0364;lker waren weit entfernt es fu&#x0364;r mo&#x0364;glich, oder<lb/>
auch nur fu&#x0364;r wu&#x0364;n&#x017F;chenswerth zu halten die unzula&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen<lb/>
Handlungen ge&#x017F;etzlich mit ihren Strafen &#x017F;o zu verzeichnen,<lb/>
daß, wie in einem Zollregi&#x017F;ter, die nicht aufgefu&#x0364;hrten fu&#x0364;r<lb/>
frey gelten, und einer jeden verbotnen eine be&#x017F;timmt an-<lb/>
wendbare Strafe vorge&#x017F;chrieben &#x017F;teht. Sie hielten dies<lb/>
verderblich fu&#x0364;r die Sitten, fu&#x0364;r die Freyheit gar nicht we-<lb/>
&#x017F;entlich, wohl aber eine freye und unabha&#x0364;ngige Einrich-<lb/>
tung der Gerichte: &#x017F;ie urtheilten, daß zwar die mei&#x017F;ten<lb/>
Vergehungen des gewo&#x0364;hnlichen bu&#x0364;rgerlichen Lebens einer<lb/>
unvera&#x0364;nderlichen Strafe als Su&#x0364;hnung fa&#x0364;hig wa&#x0364;ren; daß<lb/>
bey einigen Verbrechen die Ausrottung des Su&#x0364;nders<lb/>
nothwendig &#x017F;ey: daß aber die Uebergehung in den Straf-<lb/>
ge&#x017F;etzen kein Grund der Straflo&#x017F;igkeit &#x017F;eyn du&#x0364;rfe, und<lb/>
daß &#x017F;ehr viele Vergehungen &#x017F;chlechterdings nur nach den<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nden auf ganz ver&#x017F;chiedene Wei&#x017F;e geahndet werden<lb/>
ko&#x0364;nnten. So be&#x017F;timmten die Athenien&#x017F;i&#x017F;chen Volksgerichte<lb/>
in &#x017F;ehr vielen Fa&#x0364;llen die Art und den Grad der Strafen,<lb/>
und &#x017F;o thaten es in einigen die Comitien der Tribus in den<lb/>
freyeren Zeiten der ro&#x0364;mi&#x017F;chen Verfa&#x017F;&#x017F;ung: doch die&#x017F;e fa&#x017F;t<lb/>
nur da wo die Maje&#x017F;ta&#x0364;t des Staats, und die Wu&#x0364;rde der<lb/>
Bu&#x0364;rger betroffen war. Auch war es eine Handlung der<lb/>
&#x017F;ouverainen Macht welche von ihnen ausgeu&#x0364;bt ward in-<lb/>
dem &#x017F;ie eine Mult aus&#x017F;prachen: die Tribunen und<lb/>
Volksa&#x0364;dilen, als Mini&#x017F;ter des Volks, konnten es nicht:<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0085] Noch vor der Decemviralgeſetzgebung gewann die perſoͤnliche Freyheit eine große Befeſtigung durch die Beſtimmung des Maaßes der von der hoͤchſten Obrigkeit aus Machtvollkommenheit ausgeſprochenen Strafen. Die alten Voͤlker waren weit entfernt es fuͤr moͤglich, oder auch nur fuͤr wuͤnſchenswerth zu halten die unzulaͤſſigen Handlungen geſetzlich mit ihren Strafen ſo zu verzeichnen, daß, wie in einem Zollregiſter, die nicht aufgefuͤhrten fuͤr frey gelten, und einer jeden verbotnen eine beſtimmt an- wendbare Strafe vorgeſchrieben ſteht. Sie hielten dies verderblich fuͤr die Sitten, fuͤr die Freyheit gar nicht we- ſentlich, wohl aber eine freye und unabhaͤngige Einrich- tung der Gerichte: ſie urtheilten, daß zwar die meiſten Vergehungen des gewoͤhnlichen buͤrgerlichen Lebens einer unveraͤnderlichen Strafe als Suͤhnung faͤhig waͤren; daß bey einigen Verbrechen die Ausrottung des Suͤnders nothwendig ſey: daß aber die Uebergehung in den Straf- geſetzen kein Grund der Strafloſigkeit ſeyn duͤrfe, und daß ſehr viele Vergehungen ſchlechterdings nur nach den Umſtaͤnden auf ganz verſchiedene Weiſe geahndet werden koͤnnten. So beſtimmten die Athenienſiſchen Volksgerichte in ſehr vielen Faͤllen die Art und den Grad der Strafen, und ſo thaten es in einigen die Comitien der Tribus in den freyeren Zeiten der roͤmiſchen Verfaſſung: doch dieſe faſt nur da wo die Majeſtaͤt des Staats, und die Wuͤrde der Buͤrger betroffen war. Auch war es eine Handlung der ſouverainen Macht welche von ihnen ausgeuͤbt ward in- dem ſie eine Mult ausſprachen: die Tribunen und Volksaͤdilen, als Miniſter des Volks, konnten es nicht:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/85
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/85>, abgerufen am 30.04.2024.