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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] gegenüberliegenden Hochgebirge herüberbrausen, zwischen
zwei tiefen Thälern von verschiedener Temperatur, er-
reichen die Stämme nie ein kräftiges, fröhliches Wachs-
thum. Die meisten sind knorrig, niedrig und wipfel-
dürr, wie die Zerreichen am südlichen Waldgürtel des
Aetna. Der Führer machte uns auf die Eckern auf-
merksam, die unter den Bäumen lagen, vermuthlich
voraussetzend, daß wir diese Frucht nie gesehen hätten.
"Sie ist giftig," setzte er hinzu; "manche haben davon
gegessen und sind stets von einem heftigen Schwindel
( sbornia ) und Erbrechen befallen worden." Auf meine
Bemerkung, daß man bei uns zu Lande ein treffliches
Oel daraus presse, schüttelte er lächelnd den Kopf und
meinte, ob denn bei uns zu Lande die Oliven so schlecht
wären, daß man den Salat lieber mit Gift anmache
als mit Olio vergine ( aus frischen, nicht erhitzten Oli-
ven gepreßtem Oele ) .

Die Wanderung auf dem schmalen, mit scharfen
Steinen bedeckten Pfade längs der inneren Seite des
Bergkamms war mehr beschwerlich als gefährlich. Trotz
der Höhe war die Luft schwül und drückend. Dichte
Nebelmassen umhingen die Gipfel vor uns, während
westlich die gewölbte, wiesenbekleidete Kuppe des schönen
Prato fiorito und weiterhin die schroffen Hörner der
Gebirge von Seravezza im Sonnenschein glänzten. Mehr
und mehr schrumpften die Buchenstämme um uns her
zusammen; Heidelbeerstauden, mit reifen Früchten be-
deckt, für meinen provencalischen Begleiter ein Fund,
den er, von Durst gequält, für Nektar und Ambrosia
erklärte, überzogen in dichten Massen den Boden. Wo
die Baumvegetation in etwa 5000 Fuß Höhe zu ver-
einzelten, kümmerlich vegetirenden Büschen wird, treten
plötzlich mehrere Alpenpflanzen ( Potentilla=, Alchemilla=,
Phyteuma=Arten u. a. ) gesellig auf, oft rasenartig den
Boden überziehend. Auf den frischen Matten, die sich
von hier aus stundenweit gegen Osten hinziehen, der
sogenannten tesa del Granduca, weiden zahlreiche Pferde,
ein Eigenthum des Großherzogs. An den steinigen
Hängen dazwischen, oft auch im Grase versteckt, finden
sich schöne Bergkrystalle vom reinsten Wasser, die ehe-
mals unter dem Namen Diamanti di Pistoja einen
Handelsartikel bildeten.

Dicht unter dem Kamme des Gebirges, den wir
in etwa 5500 Fuß Höhe erreichten, traten wir in die
dichte Wolkenschicht, auf deren Weichen wir vergebens
gehofft hatten. Die Schwüle, die uns beim Ansteigen
den Schweiß aus allen Poren getrieben hatte, verwan-
delte sich plötzlich in eine empfindliche Kälte. Ein eisiger
Nordost verjagte die Nebel auf Augenblicke, um sofort
neue Wolkenschaaren aus allen Pässen und Schluchten
des Gebirgs heraufzuführen. Nach kurzer Wanderung
[Spaltenumbruch] auf dem Grat erreichten wir den Fuß des eigentlichen
Corno, das in jähem Abfall noch etwa 600 Fuß über
uns aufstieg. Nicht ohne bedeutende Anstrengung und
die Hülfe unserer Hände, wenn auch ohne eigentliche
Gefahr erreichten wir nach halbstündigem Klettern den
Gipfel.

Vom Nebel durchnäßt und vom sturmartigen Winde
halb erstarrt, kauerten wir uns in einem von roh über-
einandergelegten Steinen ohne Dach gebildeten Ver-
schlage nieder, um uns mit Speise und Trank zu re-
stauriren. Aber vergebens harrten wir auf die Zer-
theilung des Gewölkes. Unser wenig Schutz bietendes
Versteck verlassend, verfolgten wir den schmalen Kamm
des Gipfels, bis wo das eigentliche Horn, ein nackter
Felsvorsprung, das äußerste Nordende desselben bezeich-
net. Der pfeifende, zischende Ton, mit dem die ge-
jagten Wolken über das kurze Gras hinstrichen, und
die Phantasmagorie der erscheinenden und verschwinden-
den Gipfel um uns her, die bald nah und greifbar in
hellem Sonnenschein, bald ungeheuer vergrößert in ne-
belhafter Ferne erschienen, hatte etwas Magisches, fast
Schauerliches. Auf dem höchsten Grat schritten wir an
dem Steine vorüber, der die Grenze zwischen Toscana
und dem Kirchenstaat bezeichnet. Wenige hundert Schritte
davon, am westlichen Abhange des Corno, fanden wir
später das Wappen von Modena. Man sollte denken,
es sey keine Gefahr vorhanden, daß es in diesen eisigen
Höhen zu Grenzstreitigkeiten käme; aber unser Führer
erzählte uns, daß mehr als einmal hier ein blutiger
Kampf zwischen Hirten der verschiedenen Staaten um
ihre Weideplätze stattgefunden habe. So entweiht die
Habgier des Menschen selbst die feierliche Einsamkeit
der Hochgebirgsnatur.

Mehrere Minuten hatten wir schon auf der höch-
sten Spitze des Hornes gestanden, ohne daß uns die
wallenden Dünste einen freien Blick auch nur auf die
nächste Umgebung gewährt hätten. Da riß ein heftiger
Windstoß, der uns beinahe mit hinabgeführt hätte, die
Wolkendecke weithin aus einander, daß die zerstreuten
Nebel wie geschlagene Schlachthaufen nach allen Seiten
hin zerstoben.

Fast schwindelnd blickten wir in den Abgrund, der
sich dicht vor unsern Füßen öffnete. Jn treppenartigen
Felsterrassen stürzt der Berg hier furchtbar steil gegen
Norden ab, so tief, daß das Auge unten im Grunde
kaum noch Baum und Haus zu unterscheiden vermag.
Ein Meer von Gipfeln, rauh, nackt und felsig, um-
starrt uns, von düstern, steilen Schluchten durchrissen,
in deren Tiefe Bäche und Flüsse wie Silberfäden schim-
mern. Dörfer und Schlösser hängen wie Adlernester
an den Klippen; voran auf steilem Hügel die zinnen-
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] gegenüberliegenden Hochgebirge herüberbrausen, zwischen
zwei tiefen Thälern von verschiedener Temperatur, er-
reichen die Stämme nie ein kräftiges, fröhliches Wachs-
thum. Die meisten sind knorrig, niedrig und wipfel-
dürr, wie die Zerreichen am südlichen Waldgürtel des
Aetna. Der Führer machte uns auf die Eckern auf-
merksam, die unter den Bäumen lagen, vermuthlich
voraussetzend, daß wir diese Frucht nie gesehen hätten.
„Sie ist giftig,“ setzte er hinzu; „manche haben davon
gegessen und sind stets von einem heftigen Schwindel
( sbornia ) und Erbrechen befallen worden.“ Auf meine
Bemerkung, daß man bei uns zu Lande ein treffliches
Oel daraus presse, schüttelte er lächelnd den Kopf und
meinte, ob denn bei uns zu Lande die Oliven so schlecht
wären, daß man den Salat lieber mit Gift anmache
als mit Olio vergine ( aus frischen, nicht erhitzten Oli-
ven gepreßtem Oele ) .

Die Wanderung auf dem schmalen, mit scharfen
Steinen bedeckten Pfade längs der inneren Seite des
Bergkamms war mehr beschwerlich als gefährlich. Trotz
der Höhe war die Luft schwül und drückend. Dichte
Nebelmassen umhingen die Gipfel vor uns, während
westlich die gewölbte, wiesenbekleidete Kuppe des schönen
Prato fiorito und weiterhin die schroffen Hörner der
Gebirge von Seravezza im Sonnenschein glänzten. Mehr
und mehr schrumpften die Buchenstämme um uns her
zusammen; Heidelbeerstauden, mit reifen Früchten be-
deckt, für meinen provençalischen Begleiter ein Fund,
den er, von Durst gequält, für Nektar und Ambrosia
erklärte, überzogen in dichten Massen den Boden. Wo
die Baumvegetation in etwa 5000 Fuß Höhe zu ver-
einzelten, kümmerlich vegetirenden Büschen wird, treten
plötzlich mehrere Alpenpflanzen ( Potentilla=, Alchemilla=,
Phyteuma=Arten u. a. ) gesellig auf, oft rasenartig den
Boden überziehend. Auf den frischen Matten, die sich
von hier aus stundenweit gegen Osten hinziehen, der
sogenannten tesa del Granduca, weiden zahlreiche Pferde,
ein Eigenthum des Großherzogs. An den steinigen
Hängen dazwischen, oft auch im Grase versteckt, finden
sich schöne Bergkrystalle vom reinsten Wasser, die ehe-
mals unter dem Namen Diamanti di Pistoja einen
Handelsartikel bildeten.

Dicht unter dem Kamme des Gebirges, den wir
in etwa 5500 Fuß Höhe erreichten, traten wir in die
dichte Wolkenschicht, auf deren Weichen wir vergebens
gehofft hatten. Die Schwüle, die uns beim Ansteigen
den Schweiß aus allen Poren getrieben hatte, verwan-
delte sich plötzlich in eine empfindliche Kälte. Ein eisiger
Nordost verjagte die Nebel auf Augenblicke, um sofort
neue Wolkenschaaren aus allen Pässen und Schluchten
des Gebirgs heraufzuführen. Nach kurzer Wanderung
[Spaltenumbruch] auf dem Grat erreichten wir den Fuß des eigentlichen
Corno, das in jähem Abfall noch etwa 600 Fuß über
uns aufstieg. Nicht ohne bedeutende Anstrengung und
die Hülfe unserer Hände, wenn auch ohne eigentliche
Gefahr erreichten wir nach halbstündigem Klettern den
Gipfel.

Vom Nebel durchnäßt und vom sturmartigen Winde
halb erstarrt, kauerten wir uns in einem von roh über-
einandergelegten Steinen ohne Dach gebildeten Ver-
schlage nieder, um uns mit Speise und Trank zu re-
stauriren. Aber vergebens harrten wir auf die Zer-
theilung des Gewölkes. Unser wenig Schutz bietendes
Versteck verlassend, verfolgten wir den schmalen Kamm
des Gipfels, bis wo das eigentliche Horn, ein nackter
Felsvorsprung, das äußerste Nordende desselben bezeich-
net. Der pfeifende, zischende Ton, mit dem die ge-
jagten Wolken über das kurze Gras hinstrichen, und
die Phantasmagorie der erscheinenden und verschwinden-
den Gipfel um uns her, die bald nah und greifbar in
hellem Sonnenschein, bald ungeheuer vergrößert in ne-
belhafter Ferne erschienen, hatte etwas Magisches, fast
Schauerliches. Auf dem höchsten Grat schritten wir an
dem Steine vorüber, der die Grenze zwischen Toscana
und dem Kirchenstaat bezeichnet. Wenige hundert Schritte
davon, am westlichen Abhange des Corno, fanden wir
später das Wappen von Modena. Man sollte denken,
es sey keine Gefahr vorhanden, daß es in diesen eisigen
Höhen zu Grenzstreitigkeiten käme; aber unser Führer
erzählte uns, daß mehr als einmal hier ein blutiger
Kampf zwischen Hirten der verschiedenen Staaten um
ihre Weideplätze stattgefunden habe. So entweiht die
Habgier des Menschen selbst die feierliche Einsamkeit
der Hochgebirgsnatur.

Mehrere Minuten hatten wir schon auf der höch-
sten Spitze des Hornes gestanden, ohne daß uns die
wallenden Dünste einen freien Blick auch nur auf die
nächste Umgebung gewährt hätten. Da riß ein heftiger
Windstoß, der uns beinahe mit hinabgeführt hätte, die
Wolkendecke weithin aus einander, daß die zerstreuten
Nebel wie geschlagene Schlachthaufen nach allen Seiten
hin zerstoben.

Fast schwindelnd blickten wir in den Abgrund, der
sich dicht vor unsern Füßen öffnete. Jn treppenartigen
Felsterrassen stürzt der Berg hier furchtbar steil gegen
Norden ab, so tief, daß das Auge unten im Grunde
kaum noch Baum und Haus zu unterscheiden vermag.
Ein Meer von Gipfeln, rauh, nackt und felsig, um-
starrt uns, von düstern, steilen Schluchten durchrissen,
in deren Tiefe Bäche und Flüsse wie Silberfäden schim-
mern. Dörfer und Schlösser hängen wie Adlernester
an den Klippen; voran auf steilem Hügel die zinnen-
[Ende Spaltensatz]

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Die Wanderung auf dem schmalen, mit scharfen Steinen bedeckten Pfade längs der inneren Seite des Bergkamms war mehr beschwerlich als gefährlich. Trotz der Höhe war die Luft schwül und drückend. Dichte Nebelmassen umhingen die Gipfel vor uns, während westlich die gewölbte, wiesenbekleidete Kuppe des schönen Prato fiorito und weiterhin die schroffen Hörner der Gebirge von Seravezza im Sonnenschein glänzten. Mehr und mehr schrumpften die Buchenstämme um uns her zusammen; Heidelbeerstauden, mit reifen Früchten be- deckt, für meinen provençalischen Begleiter ein Fund, den er, von Durst gequält, für Nektar und Ambrosia erklärte, überzogen in dichten Massen den Boden. Wo die Baumvegetation in etwa 5000 Fuß Höhe zu ver- einzelten, kümmerlich vegetirenden Büschen wird, treten plötzlich mehrere Alpenpflanzen ( Potentilla=, Alchemilla=, Phyteuma=Arten u. a. ) gesellig auf, oft rasenartig den Boden überziehend. Auf den frischen Matten, die sich von hier aus stundenweit gegen Osten hinziehen, der sogenannten tesa del Granduca, weiden zahlreiche Pferde, ein Eigenthum des Großherzogs. An den steinigen Hängen dazwischen, oft auch im Grase versteckt, finden sich schöne Bergkrystalle vom reinsten Wasser, die ehe- mals unter dem Namen Diamanti di Pistoja einen Handelsartikel bildeten. Dicht unter dem Kamme des Gebirges, den wir in etwa 5500 Fuß Höhe erreichten, traten wir in die dichte Wolkenschicht, auf deren Weichen wir vergebens gehofft hatten. Die Schwüle, die uns beim Ansteigen den Schweiß aus allen Poren getrieben hatte, verwan- delte sich plötzlich in eine empfindliche Kälte. Ein eisiger Nordost verjagte die Nebel auf Augenblicke, um sofort neue Wolkenschaaren aus allen Pässen und Schluchten des Gebirgs heraufzuführen. Nach kurzer Wanderung auf dem Grat erreichten wir den Fuß des eigentlichen Corno, das in jähem Abfall noch etwa 600 Fuß über uns aufstieg. 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Auf dem höchsten Grat schritten wir an dem Steine vorüber, der die Grenze zwischen Toscana und dem Kirchenstaat bezeichnet. Wenige hundert Schritte davon, am westlichen Abhange des Corno, fanden wir später das Wappen von Modena. Man sollte denken, es sey keine Gefahr vorhanden, daß es in diesen eisigen Höhen zu Grenzstreitigkeiten käme; aber unser Führer erzählte uns, daß mehr als einmal hier ein blutiger Kampf zwischen Hirten der verschiedenen Staaten um ihre Weideplätze stattgefunden habe. So entweiht die Habgier des Menschen selbst die feierliche Einsamkeit der Hochgebirgsnatur. Mehrere Minuten hatten wir schon auf der höch- sten Spitze des Hornes gestanden, ohne daß uns die wallenden Dünste einen freien Blick auch nur auf die nächste Umgebung gewährt hätten. Da riß ein heftiger Windstoß, der uns beinahe mit hinabgeführt hätte, die Wolkendecke weithin aus einander, daß die zerstreuten Nebel wie geschlagene Schlachthaufen nach allen Seiten hin zerstoben. Fast schwindelnd blickten wir in den Abgrund, der sich dicht vor unsern Füßen öffnete. Jn treppenartigen Felsterrassen stürzt der Berg hier furchtbar steil gegen Norden ab, so tief, daß das Auge unten im Grunde kaum noch Baum und Haus zu unterscheiden vermag. Ein Meer von Gipfeln, rauh, nackt und felsig, um- starrt uns, von düstern, steilen Schluchten durchrissen, in deren Tiefe Bäche und Flüsse wie Silberfäden schim- mern. Dörfer und Schlösser hängen wie Adlernester an den Klippen; voran auf steilem Hügel die zinnen-

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 710. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/14>, abgerufen am 23.05.2024.