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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] und thurmgekrönte Burg der Montauti. Weiter unten
erscheint, das Auge verwirrend, ein Labyrinth von
Bergen, Hügeln und Thälern, tiefer und tiefer sich sen-
kend bis zu der Ebene der Romagna, die wie ein
breites Band am Rande der letzten Hügel sich hinstreckt.
Darüber hinweg funkelt, im Sonnenschein hell leuch-
tend, der Wogengürtel der Adria. Der Finger des
Führers weist auf den dunkeln Fleck am Strande: das
ist Ravenna, die alte Kaiserstadt. Unser Auge strengt
sich an, die fernen Umrisse zu erkennen; ich greife zum
bereit gehaltenen Fernrohr -- da pfeift es um uns her,
neue Wolkenmassen ziehen düster heran; noch einen
Augenblick, und das ganze Zauberbild ist verschwunden
wie eine Fata Morgana. Vergebens hoffen wir auf
seine Wiederkehr und wenden uns endlich wieder dem
südlichen Gipfel zu, den wir zuerst erstiegen. Aber kaum
gestatten dann und wann die Nebel einen flüchtigen
Durchblick auf die näheren Gegenden: auf die Massen
des nahen Libro Sperto, auf die tiefe Schlucht des
Reno, wo der Wanderer, der dem Rennsteige der
Apenninen folgen wollte, fast 4000 Fuß tief vom
Corno alle Scale hinabsteigen müßte, um jenseits, frei-
lich nur etwa 1000 Fuß, wieder empor zu klimmen;
auf die Berge von Lucca und den Monte San Giuliano,
" per che i Pisani Lucca veder non ponno" ( Dante,
Inf. XXIII
, 30 ) , auf den See von Bientina, in die
Ebene des untern Arnothals, wo dann und wann in
nebelhaften Umrissen die Thürme einer Stadt erschienen.
Was hilft es uns, daß uns der Führer auf Ehre und
Seligkeit versichert, an hellen Morgen überschaue man
hier nicht nur die ganze Breite der Halbinsel vom
adriatischen bis zum tyrrhenischen Meer, von Ravenna
bis Livorno, sondern man erkenne deutlich die Fluthen
des Gardasees im Norden, überragt von den ernsten
Massen des Monte Baldo, und die schroffen Zinken der
südlichen Kalkalpen, während im Süden die tyrrhenische
Küste bis zu dem Hafen von Civita Vecchia und das
Meer bis zu den Hochgipfeln Corsikas erscheine! Was
hilft es uns, daß wir wissen, daß wir auf dem höch-
sten Punkte des nördlichen Apennins nächst dem unsern
aufsteigenden Monte Cimone stehen!

Die botanischen und entomologischen Schätze des
Berges zu erforschen, verhindern uns Nebel und Nässe
und der erstarrende Hauch des Windes. Von den
Rhododendren, von den Gentianen, die uns der Füh-
rer versprochen, fanden wir keine Spur. Ein einziger
Schmetterling, der auch in Deutschland Berge wie
Ebene bewohnt ( Cid. Russata ) , flatterte schwerfällig über
das nasse Gras.

Wir waren wohl zwei Stunden dort oben gewe-
sen, aber länger war es nicht auszuhalten. Die steile,
[Spaltenumbruch] westliche Lehne hinabkletternd, erreichten wir, etwa 800
Fuß unter dem Gipfel, eine söhlige Grasebene, in
der, durch die Bergwand vor dem Wind geschützt, ein
Trupp halbwilder Pferde weidete. Jenseits derselben
erheben sich kuppelförmig steile, grasbewachsene Hügel.
Von ihrer Höhe bot sich uns ein wunderbarer Anblick.
Mehrere hundert Fuß unter uns lag, in ovalem Becken
eingeschlossen, ein kleiner See, von hohen, vielgestalti-
gen Bergeshäuptern rings umstarrt, düster und schwei-
gend. Während draußen der Sturmwind braust, kräu-
selt nicht die leichteste Welle seine spiegelglatte Fläche.
Unwillkürlich tauchen vor dem Beschauer all die Sagen
von Nymphen und Niren, welche die Phantasie seiner
Jugend bevölkerten, beim Anblick des in geheimniß-
voller Tiefe ewig klar und unbeweglich ruhenden Was-
serspiegels auf. Am Rande liegen zahlreiche große,
flache Steine, in die mehr als ein müssiger Besucher
seine Namenszüge eingehauen hat. Es ist der Lago
Scaffajolo, der Volkssage nach unergründlich, nach
manchen durch eine unterirdische Strömung gespeist;
nach der prosaischsten und wahrscheinlichsten Annahme
eine bloße Ansammlung von Regenwasser.

Zu Nebel und Wolken gesellte sich ein heftiger
Schlagregen; wir schauderten vor Kälte und entschlossen
uns, wenn auch mit Widerstreben, einer weiteren Ex-
cursion auf die Kammhöhe entsagend, den Rückweg an-
zutreten. Um wenigstens auf einem andern Weg zu-
rückzukehren, wandten wir uns gerade südlich, der tie-
fen Thalschlucht zu, welche die beiden Seiten des Berg-
hufeisens trennt. Das Herabsteigen auf den steil ab-
fallenden, mit kurzem Grase bedeckten und vom Regen
schlüpfrigen Lehnen war mühsam, ja hie und da nicht
ohne wirkliche Gefahr, zumal wo das nackte Gestein,
in bandartigen Streifen zu Tage gehend, die Matten
durch jähe Felsabhänge unterbrach. Obgleich in den
ersten Nachmittagsstunden, war die Finsterniß so dicht,
daß wir nicht zehn Schritt um uns her zu sehen ver-
mochten. Endlich, etwa 1500 Fuß unter dem Gipfel,
traten wir aus der Wolkenhülle wieder in den hellen
Sonnenschein. Nur die wilden Bergwasser, die tosend
und schaumkochend zwischen den Felstrümmern rausch-
ten, verkündeten den Zustand der Atmosphäre in den
höheren Regionen des Gebirgs. Je weiter wir abwärts
kamen, um so höher stiegen die Nebel an den Bergen
hinauf. Noch hatten wir den tief eingeschnittenen Thal-
grund der Lima nicht erreicht, da war auch die letzte
Hülle um das Corno und Libro aperto verschwunden:
in den schärfsten Umrissen zeichneten sich die Hochgipfel
auf dem wolkenlosen Hintergrunde des Himmels, mich
lebhaft an eine Fahrt auf den Rigi erinnernd, von
dem auch die Nebel nicht weichen wollten, bis ich, des
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] und thurmgekrönte Burg der Montauti. Weiter unten
erscheint, das Auge verwirrend, ein Labyrinth von
Bergen, Hügeln und Thälern, tiefer und tiefer sich sen-
kend bis zu der Ebene der Romagna, die wie ein
breites Band am Rande der letzten Hügel sich hinstreckt.
Darüber hinweg funkelt, im Sonnenschein hell leuch-
tend, der Wogengürtel der Adria. Der Finger des
Führers weist auf den dunkeln Fleck am Strande: das
ist Ravenna, die alte Kaiserstadt. Unser Auge strengt
sich an, die fernen Umrisse zu erkennen; ich greife zum
bereit gehaltenen Fernrohr — da pfeift es um uns her,
neue Wolkenmassen ziehen düster heran; noch einen
Augenblick, und das ganze Zauberbild ist verschwunden
wie eine Fata Morgana. Vergebens hoffen wir auf
seine Wiederkehr und wenden uns endlich wieder dem
südlichen Gipfel zu, den wir zuerst erstiegen. Aber kaum
gestatten dann und wann die Nebel einen flüchtigen
Durchblick auf die näheren Gegenden: auf die Massen
des nahen Libro Sperto, auf die tiefe Schlucht des
Reno, wo der Wanderer, der dem Rennsteige der
Apenninen folgen wollte, fast 4000 Fuß tief vom
Corno alle Scale hinabsteigen müßte, um jenseits, frei-
lich nur etwa 1000 Fuß, wieder empor zu klimmen;
auf die Berge von Lucca und den Monte San Giuliano,
» per che i Pisani Lucca veder non ponno« ( Dante,
Inf. XXIII
, 30 ) , auf den See von Bientina, in die
Ebene des untern Arnothals, wo dann und wann in
nebelhaften Umrissen die Thürme einer Stadt erschienen.
Was hilft es uns, daß uns der Führer auf Ehre und
Seligkeit versichert, an hellen Morgen überschaue man
hier nicht nur die ganze Breite der Halbinsel vom
adriatischen bis zum tyrrhenischen Meer, von Ravenna
bis Livorno, sondern man erkenne deutlich die Fluthen
des Gardasees im Norden, überragt von den ernsten
Massen des Monte Baldo, und die schroffen Zinken der
südlichen Kalkalpen, während im Süden die tyrrhenische
Küste bis zu dem Hafen von Civita Vecchia und das
Meer bis zu den Hochgipfeln Corsikas erscheine! Was
hilft es uns, daß wir wissen, daß wir auf dem höch-
sten Punkte des nördlichen Apennins nächst dem unsern
aufsteigenden Monte Cimone stehen!

Die botanischen und entomologischen Schätze des
Berges zu erforschen, verhindern uns Nebel und Nässe
und der erstarrende Hauch des Windes. Von den
Rhododendren, von den Gentianen, die uns der Füh-
rer versprochen, fanden wir keine Spur. Ein einziger
Schmetterling, der auch in Deutschland Berge wie
Ebene bewohnt ( Cid. Russata ) , flatterte schwerfällig über
das nasse Gras.

Wir waren wohl zwei Stunden dort oben gewe-
sen, aber länger war es nicht auszuhalten. Die steile,
[Spaltenumbruch] westliche Lehne hinabkletternd, erreichten wir, etwa 800
Fuß unter dem Gipfel, eine söhlige Grasebene, in
der, durch die Bergwand vor dem Wind geschützt, ein
Trupp halbwilder Pferde weidete. Jenseits derselben
erheben sich kuppelförmig steile, grasbewachsene Hügel.
Von ihrer Höhe bot sich uns ein wunderbarer Anblick.
Mehrere hundert Fuß unter uns lag, in ovalem Becken
eingeschlossen, ein kleiner See, von hohen, vielgestalti-
gen Bergeshäuptern rings umstarrt, düster und schwei-
gend. Während draußen der Sturmwind braust, kräu-
selt nicht die leichteste Welle seine spiegelglatte Fläche.
Unwillkürlich tauchen vor dem Beschauer all die Sagen
von Nymphen und Niren, welche die Phantasie seiner
Jugend bevölkerten, beim Anblick des in geheimniß-
voller Tiefe ewig klar und unbeweglich ruhenden Was-
serspiegels auf. Am Rande liegen zahlreiche große,
flache Steine, in die mehr als ein müssiger Besucher
seine Namenszüge eingehauen hat. Es ist der Lago
Scaffajolo, der Volkssage nach unergründlich, nach
manchen durch eine unterirdische Strömung gespeist;
nach der prosaischsten und wahrscheinlichsten Annahme
eine bloße Ansammlung von Regenwasser.

Zu Nebel und Wolken gesellte sich ein heftiger
Schlagregen; wir schauderten vor Kälte und entschlossen
uns, wenn auch mit Widerstreben, einer weiteren Ex-
cursion auf die Kammhöhe entsagend, den Rückweg an-
zutreten. Um wenigstens auf einem andern Weg zu-
rückzukehren, wandten wir uns gerade südlich, der tie-
fen Thalschlucht zu, welche die beiden Seiten des Berg-
hufeisens trennt. Das Herabsteigen auf den steil ab-
fallenden, mit kurzem Grase bedeckten und vom Regen
schlüpfrigen Lehnen war mühsam, ja hie und da nicht
ohne wirkliche Gefahr, zumal wo das nackte Gestein,
in bandartigen Streifen zu Tage gehend, die Matten
durch jähe Felsabhänge unterbrach. Obgleich in den
ersten Nachmittagsstunden, war die Finsterniß so dicht,
daß wir nicht zehn Schritt um uns her zu sehen ver-
mochten. Endlich, etwa 1500 Fuß unter dem Gipfel,
traten wir aus der Wolkenhülle wieder in den hellen
Sonnenschein. Nur die wilden Bergwasser, die tosend
und schaumkochend zwischen den Felstrümmern rausch-
ten, verkündeten den Zustand der Atmosphäre in den
höheren Regionen des Gebirgs. Je weiter wir abwärts
kamen, um so höher stiegen die Nebel an den Bergen
hinauf. Noch hatten wir den tief eingeschnittenen Thal-
grund der Lima nicht erreicht, da war auch die letzte
Hülle um das Corno und Libro aperto verschwunden:
in den schärfsten Umrissen zeichneten sich die Hochgipfel
auf dem wolkenlosen Hintergrunde des Himmels, mich
lebhaft an eine Fahrt auf den Rigi erinnernd, von
dem auch die Nebel nicht weichen wollten, bis ich, des
[Ende Spaltensatz]

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Was hilft es uns, daß uns der Führer auf Ehre und Seligkeit versichert, an hellen Morgen überschaue man hier nicht nur die ganze Breite der Halbinsel vom adriatischen bis zum tyrrhenischen Meer, von Ravenna bis Livorno, sondern man erkenne deutlich die Fluthen des Gardasees im Norden, überragt von den ernsten Massen des Monte Baldo, und die schroffen Zinken der südlichen Kalkalpen, während im Süden die tyrrhenische Küste bis zu dem Hafen von Civita Vecchia und das Meer bis zu den Hochgipfeln Corsikas erscheine! Was hilft es uns, daß wir wissen, daß wir auf dem höch- sten Punkte des nördlichen Apennins nächst dem unsern aufsteigenden Monte Cimone stehen! Die botanischen und entomologischen Schätze des Berges zu erforschen, verhindern uns Nebel und Nässe und der erstarrende Hauch des Windes. Von den Rhododendren, von den Gentianen, die uns der Füh- rer versprochen, fanden wir keine Spur. Ein einziger Schmetterling, der auch in Deutschland Berge wie Ebene bewohnt ( Cid. 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Am Rande liegen zahlreiche große, flache Steine, in die mehr als ein müssiger Besucher seine Namenszüge eingehauen hat. Es ist der Lago Scaffajolo, der Volkssage nach unergründlich, nach manchen durch eine unterirdische Strömung gespeist; nach der prosaischsten und wahrscheinlichsten Annahme eine bloße Ansammlung von Regenwasser. Zu Nebel und Wolken gesellte sich ein heftiger Schlagregen; wir schauderten vor Kälte und entschlossen uns, wenn auch mit Widerstreben, einer weiteren Ex- cursion auf die Kammhöhe entsagend, den Rückweg an- zutreten. Um wenigstens auf einem andern Weg zu- rückzukehren, wandten wir uns gerade südlich, der tie- fen Thalschlucht zu, welche die beiden Seiten des Berg- hufeisens trennt. Das Herabsteigen auf den steil ab- fallenden, mit kurzem Grase bedeckten und vom Regen schlüpfrigen Lehnen war mühsam, ja hie und da nicht ohne wirkliche Gefahr, zumal wo das nackte Gestein, in bandartigen Streifen zu Tage gehend, die Matten durch jähe Felsabhänge unterbrach. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 711. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/15>, abgerufen am 23.05.2024.