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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.

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Morgenblatt

für

gebildete Leser.

Nr. 44. 2. November 1856.



    -- Spes flammis uruntur. Ovid:
A plague upon you, murderers. traitors all!
    Gone sor ever!
Shakespeare.


Der Wunderknabe von Bristol.
Novelle.
( Fortsetzung. )

[Beginn Spaltensatz]

Jn derselben Stunde dieses Abends, in welcher
Tom und Rudhall nach der Kirche gingen, richtete von
einer andern Seite ein einzelner Mann, klein und dick,
mit vollem rothem und glattem Gesicht, gleichfalls seine
Schritte dahin. Er hatte Eile, denn seine kurzen Beine
wackelten in den Kniehosen und farbigen Strümpfen
eifrig einher, ohne ihn doch sonderlich voran zu fördern.
Es mußte ihm über dieser Anstrengung warm gewor-
den seyn, denn er hatte nicht allein den dreieckten Hut,
sondern auch seine glatte Zopfperrücke ab = und in die
Hand genommen, so daß auf seinem Haupt ein kahler,
nur hinten und auf den Seiten mit einigen schwachen
rothen Sprossen versehener Scheitel sichtbar wurde.
Manchmal murmelte er etwas vor sich hin von vor-
aussichtlicher Ungehaltenheit einer Frau Sarah über
allzulanges Verbleiben in der Taverne, welche sich in
Schimpfen, Verschließen der Thür und vielleicht noch
in Schlimmerem kund geben möge. Eine solche Un-
gehaltenheit wäre in diesem Fall hinreichend begründet
gewesen, denn der Küster der Redcliffkirche, Elias
Schnecke, welchen wir hier vor uns haben, stand zwar
in allen Beziehungen auf das Vollständigste unter der
[Spaltenumbruch] absoluten Herrschaft seiner Ehehälfte, welche ihn an
Länge und Stärke, wenn auch nicht an Umfang des
Körpers beträchtlich überragte, allein ein Endchen sei-
ner persönlichen Freiheit war ihm mit Sarahs eigener
weiser Zustimmung doch geblieben: die Zeit von acht bis
zehn Abends, während welcher er sich durch einen Gang
in's Wirthshaus und ein harmloses Gespräch mit Freun-
den über die jüngsten politischen Ereignisse, so wie über
die jeweiligen, in Stadt und Umgegend vorkommenden
Unglücksfälle bei einigen Kannen starken und kühlen
Biers zerstreute. Dabei kam es nun manchmal vor,
daß ihn Gespräch und Bier über die festgesetzte Stunde
hinaus festhielten, daß die Glocke zehn Uhr dröhnte,
ehe die letzte Kanne langsam ausgetrunken und die Ge-
schichte von einem Schiffsjungen, der im Hafen über
Bord fiel, zu Ende erzählt war, daß Meister Schnecke
der Versuchung eine Viertelstunde lang nachgab und
dann auf dem Heimweg seine Füße zur Einholung der
versäumten Zeit und seinen Kopf zur Erfindung einer
passenden Ausrede vergeblich anstrengte. Das schwere
Getränk erschwerte ihm meistens beides, und so kam
er denn auch heute, um die Spitze des Chors biegend,
[Ende Spaltensatz]

Morgenblatt

für

gebildete Leser.

Nr. 44. 2. November 1856.



    — Spes flammis uruntur. Ovid:
A plague upon you, murderers. traitors all!
    Gone ſor ever!
Shakespeare.


Der Wunderknabe von Bristol.
Novelle.
( Fortsetzung. )

[Beginn Spaltensatz]

Jn derselben Stunde dieses Abends, in welcher
Tom und Rudhall nach der Kirche gingen, richtete von
einer andern Seite ein einzelner Mann, klein und dick,
mit vollem rothem und glattem Gesicht, gleichfalls seine
Schritte dahin. Er hatte Eile, denn seine kurzen Beine
wackelten in den Kniehosen und farbigen Strümpfen
eifrig einher, ohne ihn doch sonderlich voran zu fördern.
Es mußte ihm über dieser Anstrengung warm gewor-
den seyn, denn er hatte nicht allein den dreieckten Hut,
sondern auch seine glatte Zopfperrücke ab = und in die
Hand genommen, so daß auf seinem Haupt ein kahler,
nur hinten und auf den Seiten mit einigen schwachen
rothen Sprossen versehener Scheitel sichtbar wurde.
Manchmal murmelte er etwas vor sich hin von vor-
aussichtlicher Ungehaltenheit einer Frau Sarah über
allzulanges Verbleiben in der Taverne, welche sich in
Schimpfen, Verschließen der Thür und vielleicht noch
in Schlimmerem kund geben möge. Eine solche Un-
gehaltenheit wäre in diesem Fall hinreichend begründet
gewesen, denn der Küster der Redcliffkirche, Elias
Schnecke, welchen wir hier vor uns haben, stand zwar
in allen Beziehungen auf das Vollständigste unter der
[Spaltenumbruch] absoluten Herrschaft seiner Ehehälfte, welche ihn an
Länge und Stärke, wenn auch nicht an Umfang des
Körpers beträchtlich überragte, allein ein Endchen sei-
ner persönlichen Freiheit war ihm mit Sarahs eigener
weiser Zustimmung doch geblieben: die Zeit von acht bis
zehn Abends, während welcher er sich durch einen Gang
in's Wirthshaus und ein harmloses Gespräch mit Freun-
den über die jüngsten politischen Ereignisse, so wie über
die jeweiligen, in Stadt und Umgegend vorkommenden
Unglücksfälle bei einigen Kannen starken und kühlen
Biers zerstreute. Dabei kam es nun manchmal vor,
daß ihn Gespräch und Bier über die festgesetzte Stunde
hinaus festhielten, daß die Glocke zehn Uhr dröhnte,
ehe die letzte Kanne langsam ausgetrunken und die Ge-
schichte von einem Schiffsjungen, der im Hafen über
Bord fiel, zu Ende erzählt war, daß Meister Schnecke
der Versuchung eine Viertelstunde lang nachgab und
dann auf dem Heimweg seine Füße zur Einholung der
versäumten Zeit und seinen Kopf zur Erfindung einer
passenden Ausrede vergeblich anstrengte. Das schwere
Getränk erschwerte ihm meistens beides, und so kam
er denn auch heute, um die Spitze des Chors biegend,
[Ende Spaltensatz]

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[[1033]/0001] Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. 2. November 1856. — Spes flammis uruntur. Ovid: A plague upon you, murderers. traitors all! Gone ſor ever! Shakespeare. Der Wunderknabe von Bristol. Novelle. ( Fortsetzung. ) Jn derselben Stunde dieses Abends, in welcher Tom und Rudhall nach der Kirche gingen, richtete von einer andern Seite ein einzelner Mann, klein und dick, mit vollem rothem und glattem Gesicht, gleichfalls seine Schritte dahin. Er hatte Eile, denn seine kurzen Beine wackelten in den Kniehosen und farbigen Strümpfen eifrig einher, ohne ihn doch sonderlich voran zu fördern. Es mußte ihm über dieser Anstrengung warm gewor- den seyn, denn er hatte nicht allein den dreieckten Hut, sondern auch seine glatte Zopfperrücke ab = und in die Hand genommen, so daß auf seinem Haupt ein kahler, nur hinten und auf den Seiten mit einigen schwachen rothen Sprossen versehener Scheitel sichtbar wurde. Manchmal murmelte er etwas vor sich hin von vor- aussichtlicher Ungehaltenheit einer Frau Sarah über allzulanges Verbleiben in der Taverne, welche sich in Schimpfen, Verschließen der Thür und vielleicht noch in Schlimmerem kund geben möge. Eine solche Un- gehaltenheit wäre in diesem Fall hinreichend begründet gewesen, denn der Küster der Redcliffkirche, Elias Schnecke, welchen wir hier vor uns haben, stand zwar in allen Beziehungen auf das Vollständigste unter der absoluten Herrschaft seiner Ehehälfte, welche ihn an Länge und Stärke, wenn auch nicht an Umfang des Körpers beträchtlich überragte, allein ein Endchen sei- ner persönlichen Freiheit war ihm mit Sarahs eigener weiser Zustimmung doch geblieben: die Zeit von acht bis zehn Abends, während welcher er sich durch einen Gang in's Wirthshaus und ein harmloses Gespräch mit Freun- den über die jüngsten politischen Ereignisse, so wie über die jeweiligen, in Stadt und Umgegend vorkommenden Unglücksfälle bei einigen Kannen starken und kühlen Biers zerstreute. Dabei kam es nun manchmal vor, daß ihn Gespräch und Bier über die festgesetzte Stunde hinaus festhielten, daß die Glocke zehn Uhr dröhnte, ehe die letzte Kanne langsam ausgetrunken und die Ge- schichte von einem Schiffsjungen, der im Hafen über Bord fiel, zu Ende erzählt war, daß Meister Schnecke der Versuchung eine Viertelstunde lang nachgab und dann auf dem Heimweg seine Füße zur Einholung der versäumten Zeit und seinen Kopf zur Erfindung einer passenden Ausrede vergeblich anstrengte. Das schwere Getränk erschwerte ihm meistens beides, und so kam er denn auch heute, um die Spitze des Chors biegend,

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856, S. [1033]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt44_1856/1>, abgerufen am 14.05.2024.