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Sonntags-Blatt. Nr. 7. Berlin, 16. Februar 1868.

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[Beginn Spaltensatz] wie ihre Lider schwerer und schwerer wurden. Sie hörte die Drossel
noch immer, doch der Kopf fiel ihr müde auf die Brust, und sie
athmete im Halbschlaf. Dann fuhr sie plötzlich auf, tastete verwirrt
um sich und legte sich, instinktiv mit den Händen die leichte Decke
über sich ziehend, auf die Kissen zurück.

Durch das weit offene Fenster aber, das sie zu schließen vergessen,
blitzte schräg die Venus auf ihre blonden Locken, und von Blumenduft-
wellen getragen wogte das Liebeslied der Amsel durch die tiefe Ruhe
sehnsüchtig über die Traumbilder des Schlafgottes, in dessen Armen
tief aufathmend das Mädchen sich hin und her bewegte.



Es war noch immer die Drossel, welche schlug, nur saß sie nicht
mehr droben zwischen den blühenden Birnbaumwipfeln, sondern sie
stand hochbeinig auf dem Moosfirst des grau verwitterten Stroh-
daches, dicht neben den Pferdeköpfen, die über dem nach vorn senkrecht
abfallenden Giebel aufstiegen. Posthuma hörte kaum, daß die Amsel
sang. Sie war viel zu eifrig mit den kleinen gezackten und blaß-
rothen Muscheln beschäftigt, die sie gesondert in ihre Schürze sam-
melte. Es schien Alles fester Boden rund um sie her, nur kam langsam
eine lange leise Welle über den weißgrauen Sand herauf gerollt und
lief wieder zurück, als ob sie mit dem kleinen Mädchen spielen wollte.
Sie brachte Muscheln und Steinchen mit sich, aber sie trug sie auch
beim Zurückfließen wieder auf ihrem Rücken fort, so daß die Hände
genau Acht geben mußten, ihr im richtigen Moment ihre Beute zu
entreißen. Damit war das kleine, etwa sechsjährige Mädchen so
eifrig beschäftigt, daß es gar nicht hörte, wie die Drossel schon so
lange schlug.

Doch jetzt blickte sie von ihrer Arbeit auf und wandte das blond-
lockige Köpfchen, denn sie hörte eine wohlbekannte Stimme hinter
sich. Ein Knabe, in demselben Alter und ebenfalls blond und blau-
äugig, kam den Strand herunter auf sie zu. Er lief mit seinen
bloßen Füßen auf dem weichen Sand; als er an der Stelle ankam,
wo das Mädchen am Boden hockte, plätscherten die verstärkten Wellen
ihm schon bis an die Knöchel hinauf.

"Es ist vorbei, Paula", sagte er, "die Flut kommt. Was
hast Du?"

Das Mädchen öffnete die Schürze, und er setzte sich neben ihr auf
den Boden nieder.

"Jch weiß nicht", erwiderte sie, "Du kennst es besser; sieh, Paul."

"Das ist schön, das ist selten!" rief der Knabe frohlockend, hin
und wieder ein Stück aus ihrer Schürze nehmend und es aufmerksam
betrachtend.

"Da hast Du einen guten Fund gemacht, Paula. Aber ich auch",
setzte er, in seine Taschen greifend, hinzu; "sieh. Nein", setzte er hinzu,
sich besinnend, und schob die kostbaren Gegenstände aufspringend wieder
zurück, "hier nicht! Das ärgert die Meergeister, wenn sie es sehen. Laß
uns hinauf gehen, Paula, die schwarze Prinzessin singt schon lange."

Die Kleine sprang ebenfalls auf und raffte ihre Herrlichkeiten zu-
sammen. Sie neigte den Kopf einen Augenblick lauschend nach dem
Hause hinüber; ein lang gezogener Vogelton kam über die kleine Jnsel
und verhallte den Strand entlang.

"Ja, ich höre sie", sagte sie dann und ging eilig neben ihrem Ge-
spielen her. "Jst's denn wirklich eine verzauberte Prinzessin, Paul?"

"Natürlich", antwortete der Knabe; "aber sprich nicht so laut.
Könnte sie sonst so schön singen?"

Das leuchtete der Kleinen ein.

"Kann sie denn gar nicht entzaubert werden?" fragte sie traurig.

"Gewiß, wenn sie den Thau aus einer wunderschönen Blume
trinkt, die drüben auf dem Lande ganz weit mitten in einem dunklen
Walde wächst."

"Warum fliegt sie denn nicht dahin?"

"Weil der Meermann ihr auflauert", entgegnete der Knabe leise
und sich vorsichtig umschauend. "Der möchte sie entzaubern und sie
selbst heirathen, statt des Königssohns, für den sie bestimmt ist."

"Aber weßhalb fliegt sie denn nicht bei der Ebbe hinüber, Paul?
Da ist der Meermann ja fort und kann ihr nichts anhaben." Darauf
wußte Paul im Augenblick keine Antwort und schwieg. Doch er
machte beinahe ein beleidigtes Gesicht, daß sie Zweifel in seine Kenntniß
setzte, so daß sie begütigend hinzufügte: "Der Meermann muß recht
häßlich sein; wie mag er wohl aussehen, Paul?"

Die Wolke auf der Stirn des Knaben verflog geschwind.

"Jch hab' ihn noch nicht gesehn", versetzte er schnell, "aber ich
denke mir, daß er wie Dein Vetter aussieht, der Dich ja auch
heirathen will."

"Ja", erwiderte Paula, mit dem Kopf nickend, "so denke ich ihn
mir auch, Paul."

Dieser sah ihr nachdenklich ins Gesicht.

"Eigentlich ist's umgekehrt", sagte er. "Dein Vetter ist der vor-
nehme Prinz, und ich bin der Meermann, der Dich nicht wieder nach
dem Lande hinüber läßt, und wenn wir groß sind --"

[Spaltenumbruch]

Das Mädchen unterbrach ihn und sah ihn mit ihren großen Augen
bittend an.

"Jch will ja auch gar nicht wieder hinüber, Paul", sagte sie.
"Wenn Du nur der Meermann bist, dann bleibe ich freiwillig immer
bei Dir."

Sie hatten während des Gesprächs die Mitte der Jnsel erreicht,
die sich nach allen Seiten wie ein flacher Kegel gleichmäßig abdachte.
Sie war so klein, daß man von dort aus jeden Punkt derselben
genau übersah, ja fast überall bis an den Strand zu rufen vermochte.
Ein einzelnes großes Haus lag auf der Höhe, rundum noch von einem
vier bis fünf Fuß hohen starken Erdwall umzogen, an dem man Spuren
bemerkte, daß ab und zu das Wasser bis zu ihm hinaufsteigen mußte.
Dann war die Jnsel verschwunden, und das Haus schwamm wie eine
Arche einsam im Meer. Fast allmonatlich ereignete sich dies, wenn
zu der gewöhnlichen Flut die Monds= oder Springflut hinzukam.
Auch den anderen kleinen Jnseln, die näher oder weiter entfernt
umherlagen, erging es dann so. Die größeren nur, deren Boden-
werth die Kosten eines um den Uferrand geführten Deiches aufwog,
blieben auch bei der Springflut vor Ueberschwemmung verschont, und
für sie trat erst Gefahr ein, wenn sich jenen Beiden die dritte und
ungestümste Flut, die Sturmflut, beigesellte. Dann bot keine Höhe
Schutz, kein Deich Sicherheit. Das entfesselte Element, mit der drei-
fachen Gabel Poseidons zur Wuth aufgepeitscht, reckte sich brüllend
gigantenhaft auf, und wo es den Deich überstürzte oder durchbrach,
war der Vernichtungskampf begonnen. Rücklaufend riß es Land und
Leben, Menschenheerd und Heimat mit sich in den alten Ozean
hinab.

Zum Glück war das Zusammentreffen dieser drei Fluten ein so
seltenes Ereigniß, daß es seit dem Gedenken der ältesten Halligbewohner
nicht mehr vorgekommen. Nur die Tradition jeder Familie berichtete
davon, doch man las sie dafür auch in allen Gesichtern. Jn jedem
lag das Gefühl des Schwebens zwischen Leben und Sterben. Das
Bewußtsein des steten Kampfes mit übermächtigen Feinden hatte
einen trotzigen Stempel auf ihre Stirn gedrückt, den unbewußt ein
Hauch der Poesie aus der düstern Unabwendbarkeit des kommenden
Unterganges umwebte.

Dennoch kamen sie Alle zurück aus Nord und Süd, aus Ost und
West, so weit der Drang der Jugend sie zerstreute. Alle kamen sie
auf die ewig gefährdete Scholle zurück, ob sie arm geblieben, ob sie
Glücksgüter erworben. Sie kamen, weil es besser war, mit ihr unter-
zugehen, als fern von ihr aus Sehnsucht nach der Heimat ihrer
Kindheit zu sterben. Wie in alten Sagen band ein übermächtiger
Zauber sie an den Todfeind ihres Lebens. Sie liebten das Meer,
das sie haßte; es war jene wahnsinnige Liebe, die lieber durch die
Hand der Geliebten sterben als entsagen will.

Und diese Liebe erforderte nicht, wie jene andere, das heiße Blut
der Jugend. Sie wuchs mit den Jahren, mit dem grauen Haar.
Sie pochte vielleicht am ungestümsten im Herzen des Greises und der
Matrone, und glänzte als letzter Funke des Lebens in dem erloschenen
Blick, wenn das Sturmroß die Pfosten der einsamen Meerwohnung
umschnob und die Fluten über den Deich in das wetterdurchfurchte
Antlitz peitschte, das sie nicht mehr zu sehen vermochte.

Sie lag in dem Gesicht des Mannes, diese zähe Liebe, der jetzt
aus der Thür des Hauses, auf dessen First die Schwarzdrossel sang,
den beiden Kindern entgegentrat. Es war ein hochgewachsener Vier-
ziger von athletischem Bau. Entschlossene Kraft sprach aus den
Muskeln des Gesichts, während in den hellblauen Augen jener schwär-
merische Zug lag, der mild und herb zugleich mit schwermüthigem
Lächeln in die Welt und die Zukunft hinausblickte.

"Es ist Zeit, Paul", sagte er mit kräftiger Stimme, "wir müssen
Paula hinüberbringen, ihre Mutter wartet. Willst Du mitfahren?"

"Paula soll nicht hinüber zu dem Prinzen", antwortete der Knabe
trotzig.

"Und warum nicht, Paul?" fragte der Vater lachend.

"Jch leide es nicht", sagte Paul und legte den Arm fest um den
Hals des Mädchens. "Sie gehört mir und soll zu keinem Andern,
der sie heirathen will."

"Aber ich muß doch zur Mama, Paul", sagte die Kleine unent-
schlossen; nun ließ dieser sie los und stieß sie fast unsanft von sich.

"So geh", sagte er heftig, "Du bist auch gar nicht Paula, Du
bist eine Baronin."

Dem Mädchen traten die Thränen in die Augen.

"Pfui, Paul", schluchzte sie, "wie häßlich Du sprichst."

( Fortsetzung folgt. )

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] wie ihre Lider schwerer und schwerer wurden. Sie hörte die Drossel
noch immer, doch der Kopf fiel ihr müde auf die Brust, und sie
athmete im Halbschlaf. Dann fuhr sie plötzlich auf, tastete verwirrt
um sich und legte sich, instinktiv mit den Händen die leichte Decke
über sich ziehend, auf die Kissen zurück.

Durch das weit offene Fenster aber, das sie zu schließen vergessen,
blitzte schräg die Venus auf ihre blonden Locken, und von Blumenduft-
wellen getragen wogte das Liebeslied der Amsel durch die tiefe Ruhe
sehnsüchtig über die Traumbilder des Schlafgottes, in dessen Armen
tief aufathmend das Mädchen sich hin und her bewegte.



Es war noch immer die Drossel, welche schlug, nur saß sie nicht
mehr droben zwischen den blühenden Birnbaumwipfeln, sondern sie
stand hochbeinig auf dem Moosfirst des grau verwitterten Stroh-
daches, dicht neben den Pferdeköpfen, die über dem nach vorn senkrecht
abfallenden Giebel aufstiegen. Posthuma hörte kaum, daß die Amsel
sang. Sie war viel zu eifrig mit den kleinen gezackten und blaß-
rothen Muscheln beschäftigt, die sie gesondert in ihre Schürze sam-
melte. Es schien Alles fester Boden rund um sie her, nur kam langsam
eine lange leise Welle über den weißgrauen Sand herauf gerollt und
lief wieder zurück, als ob sie mit dem kleinen Mädchen spielen wollte.
Sie brachte Muscheln und Steinchen mit sich, aber sie trug sie auch
beim Zurückfließen wieder auf ihrem Rücken fort, so daß die Hände
genau Acht geben mußten, ihr im richtigen Moment ihre Beute zu
entreißen. Damit war das kleine, etwa sechsjährige Mädchen so
eifrig beschäftigt, daß es gar nicht hörte, wie die Drossel schon so
lange schlug.

Doch jetzt blickte sie von ihrer Arbeit auf und wandte das blond-
lockige Köpfchen, denn sie hörte eine wohlbekannte Stimme hinter
sich. Ein Knabe, in demselben Alter und ebenfalls blond und blau-
äugig, kam den Strand herunter auf sie zu. Er lief mit seinen
bloßen Füßen auf dem weichen Sand; als er an der Stelle ankam,
wo das Mädchen am Boden hockte, plätscherten die verstärkten Wellen
ihm schon bis an die Knöchel hinauf.

„Es ist vorbei, Paula“, sagte er, „die Flut kommt. Was
hast Du?“

Das Mädchen öffnete die Schürze, und er setzte sich neben ihr auf
den Boden nieder.

„Jch weiß nicht“, erwiderte sie, „Du kennst es besser; sieh, Paul.“

„Das ist schön, das ist selten!“ rief der Knabe frohlockend, hin
und wieder ein Stück aus ihrer Schürze nehmend und es aufmerksam
betrachtend.

„Da hast Du einen guten Fund gemacht, Paula. Aber ich auch“,
setzte er, in seine Taschen greifend, hinzu; „sieh. Nein“, setzte er hinzu,
sich besinnend, und schob die kostbaren Gegenstände aufspringend wieder
zurück, „hier nicht! Das ärgert die Meergeister, wenn sie es sehen. Laß
uns hinauf gehen, Paula, die schwarze Prinzessin singt schon lange.“

Die Kleine sprang ebenfalls auf und raffte ihre Herrlichkeiten zu-
sammen. Sie neigte den Kopf einen Augenblick lauschend nach dem
Hause hinüber; ein lang gezogener Vogelton kam über die kleine Jnsel
und verhallte den Strand entlang.

„Ja, ich höre sie“, sagte sie dann und ging eilig neben ihrem Ge-
spielen her. „Jst's denn wirklich eine verzauberte Prinzessin, Paul?“

„Natürlich“, antwortete der Knabe; „aber sprich nicht so laut.
Könnte sie sonst so schön singen?“

Das leuchtete der Kleinen ein.

„Kann sie denn gar nicht entzaubert werden?“ fragte sie traurig.

„Gewiß, wenn sie den Thau aus einer wunderschönen Blume
trinkt, die drüben auf dem Lande ganz weit mitten in einem dunklen
Walde wächst.“

„Warum fliegt sie denn nicht dahin?“

„Weil der Meermann ihr auflauert“, entgegnete der Knabe leise
und sich vorsichtig umschauend. „Der möchte sie entzaubern und sie
selbst heirathen, statt des Königssohns, für den sie bestimmt ist.“

„Aber weßhalb fliegt sie denn nicht bei der Ebbe hinüber, Paul?
Da ist der Meermann ja fort und kann ihr nichts anhaben.“ Darauf
wußte Paul im Augenblick keine Antwort und schwieg. Doch er
machte beinahe ein beleidigtes Gesicht, daß sie Zweifel in seine Kenntniß
setzte, so daß sie begütigend hinzufügte: „Der Meermann muß recht
häßlich sein; wie mag er wohl aussehen, Paul?“

Die Wolke auf der Stirn des Knaben verflog geschwind.

„Jch hab' ihn noch nicht gesehn“, versetzte er schnell, „aber ich
denke mir, daß er wie Dein Vetter aussieht, der Dich ja auch
heirathen will.“

„Ja“, erwiderte Paula, mit dem Kopf nickend, „so denke ich ihn
mir auch, Paul.“

Dieser sah ihr nachdenklich ins Gesicht.

„Eigentlich ist's umgekehrt“, sagte er. „Dein Vetter ist der vor-
nehme Prinz, und ich bin der Meermann, der Dich nicht wieder nach
dem Lande hinüber läßt, und wenn wir groß sind —“

[Spaltenumbruch]

Das Mädchen unterbrach ihn und sah ihn mit ihren großen Augen
bittend an.

„Jch will ja auch gar nicht wieder hinüber, Paul“, sagte sie.
„Wenn Du nur der Meermann bist, dann bleibe ich freiwillig immer
bei Dir.“

Sie hatten während des Gesprächs die Mitte der Jnsel erreicht,
die sich nach allen Seiten wie ein flacher Kegel gleichmäßig abdachte.
Sie war so klein, daß man von dort aus jeden Punkt derselben
genau übersah, ja fast überall bis an den Strand zu rufen vermochte.
Ein einzelnes großes Haus lag auf der Höhe, rundum noch von einem
vier bis fünf Fuß hohen starken Erdwall umzogen, an dem man Spuren
bemerkte, daß ab und zu das Wasser bis zu ihm hinaufsteigen mußte.
Dann war die Jnsel verschwunden, und das Haus schwamm wie eine
Arche einsam im Meer. Fast allmonatlich ereignete sich dies, wenn
zu der gewöhnlichen Flut die Monds= oder Springflut hinzukam.
Auch den anderen kleinen Jnseln, die näher oder weiter entfernt
umherlagen, erging es dann so. Die größeren nur, deren Boden-
werth die Kosten eines um den Uferrand geführten Deiches aufwog,
blieben auch bei der Springflut vor Ueberschwemmung verschont, und
für sie trat erst Gefahr ein, wenn sich jenen Beiden die dritte und
ungestümste Flut, die Sturmflut, beigesellte. Dann bot keine Höhe
Schutz, kein Deich Sicherheit. Das entfesselte Element, mit der drei-
fachen Gabel Poseidons zur Wuth aufgepeitscht, reckte sich brüllend
gigantenhaft auf, und wo es den Deich überstürzte oder durchbrach,
war der Vernichtungskampf begonnen. Rücklaufend riß es Land und
Leben, Menschenheerd und Heimat mit sich in den alten Ozean
hinab.

Zum Glück war das Zusammentreffen dieser drei Fluten ein so
seltenes Ereigniß, daß es seit dem Gedenken der ältesten Halligbewohner
nicht mehr vorgekommen. Nur die Tradition jeder Familie berichtete
davon, doch man las sie dafür auch in allen Gesichtern. Jn jedem
lag das Gefühl des Schwebens zwischen Leben und Sterben. Das
Bewußtsein des steten Kampfes mit übermächtigen Feinden hatte
einen trotzigen Stempel auf ihre Stirn gedrückt, den unbewußt ein
Hauch der Poesie aus der düstern Unabwendbarkeit des kommenden
Unterganges umwebte.

Dennoch kamen sie Alle zurück aus Nord und Süd, aus Ost und
West, so weit der Drang der Jugend sie zerstreute. Alle kamen sie
auf die ewig gefährdete Scholle zurück, ob sie arm geblieben, ob sie
Glücksgüter erworben. Sie kamen, weil es besser war, mit ihr unter-
zugehen, als fern von ihr aus Sehnsucht nach der Heimat ihrer
Kindheit zu sterben. Wie in alten Sagen band ein übermächtiger
Zauber sie an den Todfeind ihres Lebens. Sie liebten das Meer,
das sie haßte; es war jene wahnsinnige Liebe, die lieber durch die
Hand der Geliebten sterben als entsagen will.

Und diese Liebe erforderte nicht, wie jene andere, das heiße Blut
der Jugend. Sie wuchs mit den Jahren, mit dem grauen Haar.
Sie pochte vielleicht am ungestümsten im Herzen des Greises und der
Matrone, und glänzte als letzter Funke des Lebens in dem erloschenen
Blick, wenn das Sturmroß die Pfosten der einsamen Meerwohnung
umschnob und die Fluten über den Deich in das wetterdurchfurchte
Antlitz peitschte, das sie nicht mehr zu sehen vermochte.

Sie lag in dem Gesicht des Mannes, diese zähe Liebe, der jetzt
aus der Thür des Hauses, auf dessen First die Schwarzdrossel sang,
den beiden Kindern entgegentrat. Es war ein hochgewachsener Vier-
ziger von athletischem Bau. Entschlossene Kraft sprach aus den
Muskeln des Gesichts, während in den hellblauen Augen jener schwär-
merische Zug lag, der mild und herb zugleich mit schwermüthigem
Lächeln in die Welt und die Zukunft hinausblickte.

„Es ist Zeit, Paul“, sagte er mit kräftiger Stimme, „wir müssen
Paula hinüberbringen, ihre Mutter wartet. Willst Du mitfahren?“

„Paula soll nicht hinüber zu dem Prinzen“, antwortete der Knabe
trotzig.

„Und warum nicht, Paul?“ fragte der Vater lachend.

„Jch leide es nicht“, sagte Paul und legte den Arm fest um den
Hals des Mädchens. „Sie gehört mir und soll zu keinem Andern,
der sie heirathen will.“

„Aber ich muß doch zur Mama, Paul“, sagte die Kleine unent-
schlossen; nun ließ dieser sie los und stieß sie fast unsanft von sich.

„So geh“, sagte er heftig, „Du bist auch gar nicht Paula, Du
bist eine Baronin.“

Dem Mädchen traten die Thränen in die Augen.

„Pfui, Paul“, schluchzte sie, „wie häßlich Du sprichst.“

( Fortsetzung folgt. )

[Ende Spaltensatz]
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[51/0003] 51 wie ihre Lider schwerer und schwerer wurden. Sie hörte die Drossel noch immer, doch der Kopf fiel ihr müde auf die Brust, und sie athmete im Halbschlaf. Dann fuhr sie plötzlich auf, tastete verwirrt um sich und legte sich, instinktiv mit den Händen die leichte Decke über sich ziehend, auf die Kissen zurück. Durch das weit offene Fenster aber, das sie zu schließen vergessen, blitzte schräg die Venus auf ihre blonden Locken, und von Blumenduft- wellen getragen wogte das Liebeslied der Amsel durch die tiefe Ruhe sehnsüchtig über die Traumbilder des Schlafgottes, in dessen Armen tief aufathmend das Mädchen sich hin und her bewegte. Es war noch immer die Drossel, welche schlug, nur saß sie nicht mehr droben zwischen den blühenden Birnbaumwipfeln, sondern sie stand hochbeinig auf dem Moosfirst des grau verwitterten Stroh- daches, dicht neben den Pferdeköpfen, die über dem nach vorn senkrecht abfallenden Giebel aufstiegen. Posthuma hörte kaum, daß die Amsel sang. Sie war viel zu eifrig mit den kleinen gezackten und blaß- rothen Muscheln beschäftigt, die sie gesondert in ihre Schürze sam- melte. Es schien Alles fester Boden rund um sie her, nur kam langsam eine lange leise Welle über den weißgrauen Sand herauf gerollt und lief wieder zurück, als ob sie mit dem kleinen Mädchen spielen wollte. Sie brachte Muscheln und Steinchen mit sich, aber sie trug sie auch beim Zurückfließen wieder auf ihrem Rücken fort, so daß die Hände genau Acht geben mußten, ihr im richtigen Moment ihre Beute zu entreißen. Damit war das kleine, etwa sechsjährige Mädchen so eifrig beschäftigt, daß es gar nicht hörte, wie die Drossel schon so lange schlug. Doch jetzt blickte sie von ihrer Arbeit auf und wandte das blond- lockige Köpfchen, denn sie hörte eine wohlbekannte Stimme hinter sich. Ein Knabe, in demselben Alter und ebenfalls blond und blau- äugig, kam den Strand herunter auf sie zu. Er lief mit seinen bloßen Füßen auf dem weichen Sand; als er an der Stelle ankam, wo das Mädchen am Boden hockte, plätscherten die verstärkten Wellen ihm schon bis an die Knöchel hinauf. „Es ist vorbei, Paula“, sagte er, „die Flut kommt. Was hast Du?“ Das Mädchen öffnete die Schürze, und er setzte sich neben ihr auf den Boden nieder. „Jch weiß nicht“, erwiderte sie, „Du kennst es besser; sieh, Paul.“ „Das ist schön, das ist selten!“ rief der Knabe frohlockend, hin und wieder ein Stück aus ihrer Schürze nehmend und es aufmerksam betrachtend. „Da hast Du einen guten Fund gemacht, Paula. Aber ich auch“, setzte er, in seine Taschen greifend, hinzu; „sieh. Nein“, setzte er hinzu, sich besinnend, und schob die kostbaren Gegenstände aufspringend wieder zurück, „hier nicht! Das ärgert die Meergeister, wenn sie es sehen. Laß uns hinauf gehen, Paula, die schwarze Prinzessin singt schon lange.“ Die Kleine sprang ebenfalls auf und raffte ihre Herrlichkeiten zu- sammen. Sie neigte den Kopf einen Augenblick lauschend nach dem Hause hinüber; ein lang gezogener Vogelton kam über die kleine Jnsel und verhallte den Strand entlang. „Ja, ich höre sie“, sagte sie dann und ging eilig neben ihrem Ge- spielen her. „Jst's denn wirklich eine verzauberte Prinzessin, Paul?“ „Natürlich“, antwortete der Knabe; „aber sprich nicht so laut. Könnte sie sonst so schön singen?“ Das leuchtete der Kleinen ein. „Kann sie denn gar nicht entzaubert werden?“ fragte sie traurig. „Gewiß, wenn sie den Thau aus einer wunderschönen Blume trinkt, die drüben auf dem Lande ganz weit mitten in einem dunklen Walde wächst.“ „Warum fliegt sie denn nicht dahin?“ „Weil der Meermann ihr auflauert“, entgegnete der Knabe leise und sich vorsichtig umschauend. „Der möchte sie entzaubern und sie selbst heirathen, statt des Königssohns, für den sie bestimmt ist.“ „Aber weßhalb fliegt sie denn nicht bei der Ebbe hinüber, Paul? Da ist der Meermann ja fort und kann ihr nichts anhaben.“ Darauf wußte Paul im Augenblick keine Antwort und schwieg. Doch er machte beinahe ein beleidigtes Gesicht, daß sie Zweifel in seine Kenntniß setzte, so daß sie begütigend hinzufügte: „Der Meermann muß recht häßlich sein; wie mag er wohl aussehen, Paul?“ Die Wolke auf der Stirn des Knaben verflog geschwind. „Jch hab' ihn noch nicht gesehn“, versetzte er schnell, „aber ich denke mir, daß er wie Dein Vetter aussieht, der Dich ja auch heirathen will.“ „Ja“, erwiderte Paula, mit dem Kopf nickend, „so denke ich ihn mir auch, Paul.“ Dieser sah ihr nachdenklich ins Gesicht. „Eigentlich ist's umgekehrt“, sagte er. „Dein Vetter ist der vor- nehme Prinz, und ich bin der Meermann, der Dich nicht wieder nach dem Lande hinüber läßt, und wenn wir groß sind —“ Das Mädchen unterbrach ihn und sah ihn mit ihren großen Augen bittend an. „Jch will ja auch gar nicht wieder hinüber, Paul“, sagte sie. „Wenn Du nur der Meermann bist, dann bleibe ich freiwillig immer bei Dir.“ Sie hatten während des Gesprächs die Mitte der Jnsel erreicht, die sich nach allen Seiten wie ein flacher Kegel gleichmäßig abdachte. Sie war so klein, daß man von dort aus jeden Punkt derselben genau übersah, ja fast überall bis an den Strand zu rufen vermochte. Ein einzelnes großes Haus lag auf der Höhe, rundum noch von einem vier bis fünf Fuß hohen starken Erdwall umzogen, an dem man Spuren bemerkte, daß ab und zu das Wasser bis zu ihm hinaufsteigen mußte. Dann war die Jnsel verschwunden, und das Haus schwamm wie eine Arche einsam im Meer. Fast allmonatlich ereignete sich dies, wenn zu der gewöhnlichen Flut die Monds= oder Springflut hinzukam. Auch den anderen kleinen Jnseln, die näher oder weiter entfernt umherlagen, erging es dann so. Die größeren nur, deren Boden- werth die Kosten eines um den Uferrand geführten Deiches aufwog, blieben auch bei der Springflut vor Ueberschwemmung verschont, und für sie trat erst Gefahr ein, wenn sich jenen Beiden die dritte und ungestümste Flut, die Sturmflut, beigesellte. Dann bot keine Höhe Schutz, kein Deich Sicherheit. Das entfesselte Element, mit der drei- fachen Gabel Poseidons zur Wuth aufgepeitscht, reckte sich brüllend gigantenhaft auf, und wo es den Deich überstürzte oder durchbrach, war der Vernichtungskampf begonnen. Rücklaufend riß es Land und Leben, Menschenheerd und Heimat mit sich in den alten Ozean hinab. Zum Glück war das Zusammentreffen dieser drei Fluten ein so seltenes Ereigniß, daß es seit dem Gedenken der ältesten Halligbewohner nicht mehr vorgekommen. Nur die Tradition jeder Familie berichtete davon, doch man las sie dafür auch in allen Gesichtern. Jn jedem lag das Gefühl des Schwebens zwischen Leben und Sterben. Das Bewußtsein des steten Kampfes mit übermächtigen Feinden hatte einen trotzigen Stempel auf ihre Stirn gedrückt, den unbewußt ein Hauch der Poesie aus der düstern Unabwendbarkeit des kommenden Unterganges umwebte. Dennoch kamen sie Alle zurück aus Nord und Süd, aus Ost und West, so weit der Drang der Jugend sie zerstreute. Alle kamen sie auf die ewig gefährdete Scholle zurück, ob sie arm geblieben, ob sie Glücksgüter erworben. Sie kamen, weil es besser war, mit ihr unter- zugehen, als fern von ihr aus Sehnsucht nach der Heimat ihrer Kindheit zu sterben. Wie in alten Sagen band ein übermächtiger Zauber sie an den Todfeind ihres Lebens. Sie liebten das Meer, das sie haßte; es war jene wahnsinnige Liebe, die lieber durch die Hand der Geliebten sterben als entsagen will. Und diese Liebe erforderte nicht, wie jene andere, das heiße Blut der Jugend. Sie wuchs mit den Jahren, mit dem grauen Haar. Sie pochte vielleicht am ungestümsten im Herzen des Greises und der Matrone, und glänzte als letzter Funke des Lebens in dem erloschenen Blick, wenn das Sturmroß die Pfosten der einsamen Meerwohnung umschnob und die Fluten über den Deich in das wetterdurchfurchte Antlitz peitschte, das sie nicht mehr zu sehen vermochte. Sie lag in dem Gesicht des Mannes, diese zähe Liebe, der jetzt aus der Thür des Hauses, auf dessen First die Schwarzdrossel sang, den beiden Kindern entgegentrat. Es war ein hochgewachsener Vier- ziger von athletischem Bau. Entschlossene Kraft sprach aus den Muskeln des Gesichts, während in den hellblauen Augen jener schwär- merische Zug lag, der mild und herb zugleich mit schwermüthigem Lächeln in die Welt und die Zukunft hinausblickte. „Es ist Zeit, Paul“, sagte er mit kräftiger Stimme, „wir müssen Paula hinüberbringen, ihre Mutter wartet. Willst Du mitfahren?“ „Paula soll nicht hinüber zu dem Prinzen“, antwortete der Knabe trotzig. „Und warum nicht, Paul?“ fragte der Vater lachend. „Jch leide es nicht“, sagte Paul und legte den Arm fest um den Hals des Mädchens. „Sie gehört mir und soll zu keinem Andern, der sie heirathen will.“ „Aber ich muß doch zur Mama, Paul“, sagte die Kleine unent- schlossen; nun ließ dieser sie los und stieß sie fast unsanft von sich. „So geh“, sagte er heftig, „Du bist auch gar nicht Paula, Du bist eine Baronin.“ Dem Mädchen traten die Thränen in die Augen. „Pfui, Paul“, schluchzte sie, „wie häßlich Du sprichst.“ ( Fortsetzung folgt. )

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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 7. Berlin, 16. Februar 1868, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt07_1868/3>, abgerufen am 30.04.2024.