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Sonntags-Blatt. Nr. 7. Berlin, 16. Februar 1868.

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Album. [Beginn Spaltensatz]
Sonntagsfrühe.
Der Glockenklang des Kirchleins schlägt
Wohl an Dein Fensterlein,
Und stille Morgenandacht trägt
Jhn Dir ins Herz hinein.
So luftig draußen die Linde rauscht,
Sie flüstert so lieb und lind;
Denn jedes Blättchen Grüße tauscht
Mit Dir, mein liebes Kind.
[Spaltenumbruch]
Und jedes Vöglein jubelnd singt
So wundersüße Weis',
Und jedes Lüftchen träumend schwingt
Sich durch Dein Fenster leis'.
Das zwitschert so laut und schwirrt so dreist,
Und wiegt sich auf dem Ast;
Doch grüßend schwebt herein mein Geist,
Der ungelad'ne Gast.
Th. Gesky.
[Ende Spaltensatz]

Aus der Zeit.
[Beginn Spaltensatz]
Zur Geschichte der geheimen politischen Gesellschaften
in Rußland.

Von
Carl von [unleserliches Material - 6 Zeichen fehlen]Kessel.

Es sind noch jetzt viele Leute der Ansicht, daß die im Jahre 1825 bei
der Thronbesteigung des Kaisers Nicolaus ausgebrochene Militärrevolte zu
St. Petersburg lediglich den Zweck gehabt habe, den älteren Bruder des
Kaisers, den Großfürsten Constantin, an die Spitze der Regierung zu
stellen. Dies ist indessen eine ganz falsche Annahme und hat nur insofern
einen entfernten Anspruch auf Wahrheit, als der am 1. Dezember 1825
zu Taganrog plötzliche Tod Alexanders I. die Veranlassung wurde, um eine
längst im Stillen vorbereitete Verschwörung, der indessen jede feste innere
Organisation fehlte und die sich auch fast nur auf eine Anzahl Offiziere
erstreckte, zur Ausführung zu bringen. Ueber die wahrscheinlich bereits
im Jahre 1820 bei Gelegenheit seiner Vermählung mit der polnischen Gräfin
Johanna Grudzinska, späteren Fürstin von Lowicz, erfolgte heimliche Thron-
entsagung Constantins war niemals Etwas ins Publikum gedrungen, son-
dern dieselbe wurde vielmehr stets als ein tiefes Geheimniß zwischen ihm
und seinem Bruder Alexander behandelt, dessen Schleier sich erst lüftete,
als nach dem Tode des Letzteren dem zusammengetretenen Reichstag ein
Packet übergeben wurde, auf welches Alexander eigenhändig geschrieben
hatte: " Vom Reichsrath aufzubewahren, bis ich anders darüber
verfüge; für den Fall meines Todes aber in einer außer-
ordentlichen Sitzung des Rathes zu eröffnen, bevor man zu
irgend einer andern Verhandlung schreitet.
"

Dieses Dokument war ein von Constantin unterm 26. Januar 1822
an den Kaiser gerichteter Brief, in welchem er erklärte, da er sich
weder die nöthige Kraft noch das Genie zutraue, um die Stelle eines Sou-
verains zu übernehmen, auf welche er vermöge seiner Geburt Ansprüche
machen könne, so ersuche er seinen Bruder, dies Recht an denjenigen zu
übertragen, dem es nach ihm zustehe. Alexander hatte hierzu durch eine
diesem Schreiben zugefügte Acte seine Zustimmung gegeben; somit
konnte über die rechtliche Besitzergreifung des Thrones seitens Nicolaus
kein Zweifel mehr bestehen, und ist dieselbe auch weder von Constantin,
noch vom Reichsrath und dem Senat jemals angefochten worden. Wun-
derbar und aller Klarheit ermangelnd erscheint hierbei das Benehmen von
Nicolaus; denn als der Reichsrath sich anschickte, dem so klar und be-
stimmt bezeichneten Thronfolger den Huldigungseid zu leisten, weigerte er
sich auf das Bestimmteste, denselben anzunehmen. Die Garde=Regimenter
wurden auf dem Platz vor dem Winterpalast versammelt. Man ließ sie
dort in der Kapelle dem neuen Kaiser Constantin den Eid der Treue
schwören, alle Erlasse geschahen in seinem Namen, sein in Kupfer ge-
stochenes Portrait erschien mit der Unterschrift: Constantin der Erste,
Kaiser aller Reußen.

Nicolaus mußte seiner Sache sehr gewiß sein, daß er es wagen konnte,
öffentlich eine solche Scheinkomödie aufzuführen und trotz der vor-
erwähnten, dem Reichsrath von Alexander übergebenen Urkunde seine
Thronbesteigung von der nochmaligen Erklärung Constantins abhängig zu
machen, daß er auch jetzt noch bei dem Entschluß beharre, seinem Titel
und seiner Macht als Czar zu entsagen. Er hatte sich hierin auch nicht
getäuscht, denn bereits am 8. Dezember langte von dem Letzteren ein
Schreiben aus Warschau an, in welchem er von Neuem seinen unerschüt-
terlichen Entschluß, zu seinen Gunsten abzudanken, aussprach. Hätte
Nicolaus die ganze Komödie unterlassen, so würde wahrscheinlich das bald
darauf folgende Blutbad in Petersburg gänzlich vermieden worden sein;
dadurch aber, daß er die Regimenter erst seinem Bruder schwören ließ und
dann nachträglich diesen Schwur wieder für sich in Anspruch nahm, bür-
dete er sich eine Mitschuld auf, von welcher ihn die Geschichte nicht frei-
sprechen konnte, denn er erweckte dadurch bei den Soldaten den Wahn,
daß er die Krone usurpire und sie zu einem Treubruch verleiten wolle,
was denn auch von den Verschworenen benutzt wurde, um die unwissenden,
aber in ihrem Gewissen zweifelhaften Gardetruppen als blinde Werkzeuge
für ihre Zwecke zu benutzen, welche, wie wir später sehen werden, auf ein
[Spaltenumbruch] ganz anderes Ziel hinausliefen, als für die Thronbesteigung Constantins
zu kämpfen. Uebrigens entbehrte die ganze Verschwörung jedes inneren
Haltes und war so leichtsinnig und unvorsichtig angelegt, daß man sich
darüber nur wundern kann, wie dieselbe Jahre lang unter den Augen
der Behörden fortbestehen und sich entwickeln konnte, ohne entdeckt
zu werden.

Die inneren Verhältnisse Rußlands sind zur Genüge bekannt. Auch
jetzt bildet dort die Masse des Volkes noch einen trägen Körper, dem das
geistige Bewußtsein mangelt und bei dem von Denken nicht viel die Rede ist.
Vor vierzig Jahren war es daselbst noch schlimmer, und selbstredend
konnte von Jntelligenz nur bei denen die Rede sein, die durch Geburt und
Vermögen die Mittel besaßen, sich Kenntnisse anzueignen und mit dem
Entwicklungsgange der europäischen Civilisation einigermaßen Schritt zu
halten. Noch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts war selbst den vornehmen
Russen das Reisen ins Ausland auf alle mögliche Weise erschwert worden; es
war Grundsatz der Regierung, Alles aufzubieten, um ihre Angehörigen
von dem übrigen gebildeten Europa abzusperren und sie nicht durch die
fortschreitenden freiheitlichen Jdeen infiziren zu lassen. Erst durch die
Kriege von 1813 bis 1814 und durch den dreijährigen Aufenthalt der
Okkupations=Armee in Frankreich wurden unter den gebildeten Ständen,
und namentlich unter der Jugend andere Ansichten über den Staat und
über die Menschenrechte verbreitet, und da diese Jugend hauptsächlich im
Heer die höheren Stellen einnahm, da dieses selbst bei allen Umwälzungen
in Rußland als Mittel zum Zweck gedient hat, so erklärt sich daraus auf
sehr natürliche Weise, weßhalb gerade dort sich der Heerd für die geheimen
Gesellschaften bildete. Alexander hatte übrigens selbst durch sein Verhalten
einen nicht unerheblichen Anstoß für die Entwickelung freiheitlicher Jdeen
in seinem Reich gegeben; denn während er bei seiner Anwesenheit zu Paris
mit den eifrigsten Republikanern vertraut verkehrte, erklärte er bei seiner
Rückkehr nach Petersburg, "daß der Marsch einer russischen Armee durch
Deutschland nach Paris auch Rußland zu Gute kommen würde, denn auch
für dieses solle eine neue Epoche eintreten", und die "Nordische Biene"
durfte damals die Bemerkung wagen: "Die von unserem erhabenen Mo-
narchen beschützte Preßfreiheit hat den unschätzbaren Vortheil, die Wahr-
heit bis zu den Stufen des Thrones zu bringen; sie kann nur dem miß-
fallen, welcher die Absicht hat, den Fürsten von seinem Volk abzusperren."

Solche Aeußerungen wurden natürlich begierig aufgefangen, und wäh-
rend sich auf dem polnischen Reichstage und auf den Universitäten zu
Warschau und Krakau der Geist der Freiheit regte, traten auch in Ruß-
land gleichzeitig die ersten Anzeichen geheimer politischer Verbindungen
hervor. Zunächst bildete sich eine Gesellschaft unter dem Namen "Bund
des öffentlichen Wohls", die in dem ersten und zweiten Armee=Corps be-
sonders stark vertreten war und deren Ziele dahin hinausliefen, den bis-
herigen staatlichen Zustand umzustürzen und eine neue Ordnung nach
modernen europäischen Begriffen herzustellen. An der Spitze dieses bereits
im Jahre 1817 ins Leben gerufenen Geheimbundes, welcher theils die aus
der französischen Revolution vom Jahre 1789 hervorgegangenen Grundsätze
acceptirte, theils die Tendenzen des Tugendbundes und der deutschen Bur-
schenschaft verfolgte, stand ein junger Offizier Namens Paul Pestel,
während neben ihm Alexander und Nikita Murawieff, sowie Sergius
Trubetzkoi als oberste Leiter fungirten. Paul Pestel, zwar von deutscher
Herkunft, aber ein geborener Russe, war der Sohn eines General=Gouver-
neurs von Sibirien. Er machte die Feldzüge gegen Frankreich mit und
wurde nach Beendigung derselben mit dem Rang eines Kapitäns Adjutant des
Generals Grafen von Wittgenstein und war, als er in Folge des ver-
unglückten Aufstandsversuches zu Petersburg 1825 hingerichtet wurde,
Oberst und Kommandeur eines Jnfanterie=Regiments. Aeußerlich unan-
sehnlich, belebte ihn doch ein grenzenloser Ehrgeiz, der von nichts Klei-
nerem als von einer künftigen Diktatur über Rußland träumte, obgleich
die ganze Anlage und Leitung der Verschwörung eine höchst planlose und
verschwommene war, so daß man, wie gesagt, sich nur wundern kann, wie die-
selbe Jahre lang unentdeckt unter den Augen der Behörden fortzubestehen ver-
mochte. Blinder Gehorsam galt bei den Verschworenen als erstes Gesetz,
und Pestel wußte, als die Seele der Verschwörung, diesen im vollsten Umfang
für sich geltend zu machen. Bei den Aufnahme=Ceremonien spielten bei
Ablegung des Eides Dolch, Gift und andere Embleme eine Hauptrolle;
[Ende Spaltensatz]


Album. [Beginn Spaltensatz]
Sonntagsfrühe.
Der Glockenklang des Kirchleins schlägt
Wohl an Dein Fensterlein,
Und stille Morgenandacht trägt
Jhn Dir ins Herz hinein.
So luftig draußen die Linde rauscht,
Sie flüstert so lieb und lind;
Denn jedes Blättchen Grüße tauscht
Mit Dir, mein liebes Kind.
[Spaltenumbruch]
Und jedes Vöglein jubelnd singt
So wundersüße Weis',
Und jedes Lüftchen träumend schwingt
Sich durch Dein Fenster leis'.
Das zwitschert so laut und schwirrt so dreist,
Und wiegt sich auf dem Ast;
Doch grüßend schwebt herein mein Geist,
Der ungelad'ne Gast.
Th. Gesky.
[Ende Spaltensatz]

Aus der Zeit.
[Beginn Spaltensatz]
Zur Geschichte der geheimen politischen Gesellschaften
in Rußland.

Von
Carl von [unleserliches Material – 6 Zeichen fehlen]Kessel.

Es sind noch jetzt viele Leute der Ansicht, daß die im Jahre 1825 bei
der Thronbesteigung des Kaisers Nicolaus ausgebrochene Militärrevolte zu
St. Petersburg lediglich den Zweck gehabt habe, den älteren Bruder des
Kaisers, den Großfürsten Constantin, an die Spitze der Regierung zu
stellen. Dies ist indessen eine ganz falsche Annahme und hat nur insofern
einen entfernten Anspruch auf Wahrheit, als der am 1. Dezember 1825
zu Taganrog plötzliche Tod Alexanders I. die Veranlassung wurde, um eine
längst im Stillen vorbereitete Verschwörung, der indessen jede feste innere
Organisation fehlte und die sich auch fast nur auf eine Anzahl Offiziere
erstreckte, zur Ausführung zu bringen. Ueber die wahrscheinlich bereits
im Jahre 1820 bei Gelegenheit seiner Vermählung mit der polnischen Gräfin
Johanna Grudzinska, späteren Fürstin von Lowicz, erfolgte heimliche Thron-
entsagung Constantins war niemals Etwas ins Publikum gedrungen, son-
dern dieselbe wurde vielmehr stets als ein tiefes Geheimniß zwischen ihm
und seinem Bruder Alexander behandelt, dessen Schleier sich erst lüftete,
als nach dem Tode des Letzteren dem zusammengetretenen Reichstag ein
Packet übergeben wurde, auf welches Alexander eigenhändig geschrieben
hatte: „ Vom Reichsrath aufzubewahren, bis ich anders darüber
verfüge; für den Fall meines Todes aber in einer außer-
ordentlichen Sitzung des Rathes zu eröffnen, bevor man zu
irgend einer andern Verhandlung schreitet.

Dieses Dokument war ein von Constantin unterm 26. Januar 1822
an den Kaiser gerichteter Brief, in welchem er erklärte, da er sich
weder die nöthige Kraft noch das Genie zutraue, um die Stelle eines Sou-
verains zu übernehmen, auf welche er vermöge seiner Geburt Ansprüche
machen könne, so ersuche er seinen Bruder, dies Recht an denjenigen zu
übertragen, dem es nach ihm zustehe. Alexander hatte hierzu durch eine
diesem Schreiben zugefügte Acte seine Zustimmung gegeben; somit
konnte über die rechtliche Besitzergreifung des Thrones seitens Nicolaus
kein Zweifel mehr bestehen, und ist dieselbe auch weder von Constantin,
noch vom Reichsrath und dem Senat jemals angefochten worden. Wun-
derbar und aller Klarheit ermangelnd erscheint hierbei das Benehmen von
Nicolaus; denn als der Reichsrath sich anschickte, dem so klar und be-
stimmt bezeichneten Thronfolger den Huldigungseid zu leisten, weigerte er
sich auf das Bestimmteste, denselben anzunehmen. Die Garde=Regimenter
wurden auf dem Platz vor dem Winterpalast versammelt. Man ließ sie
dort in der Kapelle dem neuen Kaiser Constantin den Eid der Treue
schwören, alle Erlasse geschahen in seinem Namen, sein in Kupfer ge-
stochenes Portrait erschien mit der Unterschrift: Constantin der Erste,
Kaiser aller Reußen.

Nicolaus mußte seiner Sache sehr gewiß sein, daß er es wagen konnte,
öffentlich eine solche Scheinkomödie aufzuführen und trotz der vor-
erwähnten, dem Reichsrath von Alexander übergebenen Urkunde seine
Thronbesteigung von der nochmaligen Erklärung Constantins abhängig zu
machen, daß er auch jetzt noch bei dem Entschluß beharre, seinem Titel
und seiner Macht als Czar zu entsagen. Er hatte sich hierin auch nicht
getäuscht, denn bereits am 8. Dezember langte von dem Letzteren ein
Schreiben aus Warschau an, in welchem er von Neuem seinen unerschüt-
terlichen Entschluß, zu seinen Gunsten abzudanken, aussprach. Hätte
Nicolaus die ganze Komödie unterlassen, so würde wahrscheinlich das bald
darauf folgende Blutbad in Petersburg gänzlich vermieden worden sein;
dadurch aber, daß er die Regimenter erst seinem Bruder schwören ließ und
dann nachträglich diesen Schwur wieder für sich in Anspruch nahm, bür-
dete er sich eine Mitschuld auf, von welcher ihn die Geschichte nicht frei-
sprechen konnte, denn er erweckte dadurch bei den Soldaten den Wahn,
daß er die Krone usurpire und sie zu einem Treubruch verleiten wolle,
was denn auch von den Verschworenen benutzt wurde, um die unwissenden,
aber in ihrem Gewissen zweifelhaften Gardetruppen als blinde Werkzeuge
für ihre Zwecke zu benutzen, welche, wie wir später sehen werden, auf ein
[Spaltenumbruch] ganz anderes Ziel hinausliefen, als für die Thronbesteigung Constantins
zu kämpfen. Uebrigens entbehrte die ganze Verschwörung jedes inneren
Haltes und war so leichtsinnig und unvorsichtig angelegt, daß man sich
darüber nur wundern kann, wie dieselbe Jahre lang unter den Augen
der Behörden fortbestehen und sich entwickeln konnte, ohne entdeckt
zu werden.

Die inneren Verhältnisse Rußlands sind zur Genüge bekannt. Auch
jetzt bildet dort die Masse des Volkes noch einen trägen Körper, dem das
geistige Bewußtsein mangelt und bei dem von Denken nicht viel die Rede ist.
Vor vierzig Jahren war es daselbst noch schlimmer, und selbstredend
konnte von Jntelligenz nur bei denen die Rede sein, die durch Geburt und
Vermögen die Mittel besaßen, sich Kenntnisse anzueignen und mit dem
Entwicklungsgange der europäischen Civilisation einigermaßen Schritt zu
halten. Noch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts war selbst den vornehmen
Russen das Reisen ins Ausland auf alle mögliche Weise erschwert worden; es
war Grundsatz der Regierung, Alles aufzubieten, um ihre Angehörigen
von dem übrigen gebildeten Europa abzusperren und sie nicht durch die
fortschreitenden freiheitlichen Jdeen infiziren zu lassen. Erst durch die
Kriege von 1813 bis 1814 und durch den dreijährigen Aufenthalt der
Okkupations=Armee in Frankreich wurden unter den gebildeten Ständen,
und namentlich unter der Jugend andere Ansichten über den Staat und
über die Menschenrechte verbreitet, und da diese Jugend hauptsächlich im
Heer die höheren Stellen einnahm, da dieses selbst bei allen Umwälzungen
in Rußland als Mittel zum Zweck gedient hat, so erklärt sich daraus auf
sehr natürliche Weise, weßhalb gerade dort sich der Heerd für die geheimen
Gesellschaften bildete. Alexander hatte übrigens selbst durch sein Verhalten
einen nicht unerheblichen Anstoß für die Entwickelung freiheitlicher Jdeen
in seinem Reich gegeben; denn während er bei seiner Anwesenheit zu Paris
mit den eifrigsten Republikanern vertraut verkehrte, erklärte er bei seiner
Rückkehr nach Petersburg, „daß der Marsch einer russischen Armee durch
Deutschland nach Paris auch Rußland zu Gute kommen würde, denn auch
für dieses solle eine neue Epoche eintreten“, und die „Nordische Biene“
durfte damals die Bemerkung wagen: „Die von unserem erhabenen Mo-
narchen beschützte Preßfreiheit hat den unschätzbaren Vortheil, die Wahr-
heit bis zu den Stufen des Thrones zu bringen; sie kann nur dem miß-
fallen, welcher die Absicht hat, den Fürsten von seinem Volk abzusperren.“

Solche Aeußerungen wurden natürlich begierig aufgefangen, und wäh-
rend sich auf dem polnischen Reichstage und auf den Universitäten zu
Warschau und Krakau der Geist der Freiheit regte, traten auch in Ruß-
land gleichzeitig die ersten Anzeichen geheimer politischer Verbindungen
hervor. Zunächst bildete sich eine Gesellschaft unter dem Namen „Bund
des öffentlichen Wohls“, die in dem ersten und zweiten Armee=Corps be-
sonders stark vertreten war und deren Ziele dahin hinausliefen, den bis-
herigen staatlichen Zustand umzustürzen und eine neue Ordnung nach
modernen europäischen Begriffen herzustellen. An der Spitze dieses bereits
im Jahre 1817 ins Leben gerufenen Geheimbundes, welcher theils die aus
der französischen Revolution vom Jahre 1789 hervorgegangenen Grundsätze
acceptirte, theils die Tendenzen des Tugendbundes und der deutschen Bur-
schenschaft verfolgte, stand ein junger Offizier Namens Paul Pestel,
während neben ihm Alexander und Nikita Murawieff, sowie Sergius
Trubetzkoi als oberste Leiter fungirten. Paul Pestel, zwar von deutscher
Herkunft, aber ein geborener Russe, war der Sohn eines General=Gouver-
neurs von Sibirien. Er machte die Feldzüge gegen Frankreich mit und
wurde nach Beendigung derselben mit dem Rang eines Kapitäns Adjutant des
Generals Grafen von Wittgenstein und war, als er in Folge des ver-
unglückten Aufstandsversuches zu Petersburg 1825 hingerichtet wurde,
Oberst und Kommandeur eines Jnfanterie=Regiments. Aeußerlich unan-
sehnlich, belebte ihn doch ein grenzenloser Ehrgeiz, der von nichts Klei-
nerem als von einer künftigen Diktatur über Rußland träumte, obgleich
die ganze Anlage und Leitung der Verschwörung eine höchst planlose und
verschwommene war, so daß man, wie gesagt, sich nur wundern kann, wie die-
selbe Jahre lang unentdeckt unter den Augen der Behörden fortzubestehen ver-
mochte. Blinder Gehorsam galt bei den Verschworenen als erstes Gesetz,
und Pestel wußte, als die Seele der Verschwörung, diesen im vollsten Umfang
für sich geltend zu machen. Bei den Aufnahme=Ceremonien spielten bei
Ablegung des Eides Dolch, Gift und andere Embleme eine Hauptrolle;
[Ende Spaltensatz]

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[52/0004] 52 Album. Sonntagsfrühe. Der Glockenklang des Kirchleins schlägt Wohl an Dein Fensterlein, Und stille Morgenandacht trägt Jhn Dir ins Herz hinein. So luftig draußen die Linde rauscht, Sie flüstert so lieb und lind; Denn jedes Blättchen Grüße tauscht Mit Dir, mein liebes Kind. Und jedes Vöglein jubelnd singt So wundersüße Weis', Und jedes Lüftchen träumend schwingt Sich durch Dein Fenster leis'. Das zwitschert so laut und schwirrt so dreist, Und wiegt sich auf dem Ast; Doch grüßend schwebt herein mein Geist, Der ungelad'ne Gast. Th. Gesky. Aus der Zeit. Zur Geschichte der geheimen politischen Gesellschaften in Rußland. Von Carl von ______Kessel. Es sind noch jetzt viele Leute der Ansicht, daß die im Jahre 1825 bei der Thronbesteigung des Kaisers Nicolaus ausgebrochene Militärrevolte zu St. Petersburg lediglich den Zweck gehabt habe, den älteren Bruder des Kaisers, den Großfürsten Constantin, an die Spitze der Regierung zu stellen. Dies ist indessen eine ganz falsche Annahme und hat nur insofern einen entfernten Anspruch auf Wahrheit, als der am 1. Dezember 1825 zu Taganrog plötzliche Tod Alexanders I. die Veranlassung wurde, um eine längst im Stillen vorbereitete Verschwörung, der indessen jede feste innere Organisation fehlte und die sich auch fast nur auf eine Anzahl Offiziere erstreckte, zur Ausführung zu bringen. Ueber die wahrscheinlich bereits im Jahre 1820 bei Gelegenheit seiner Vermählung mit der polnischen Gräfin Johanna Grudzinska, späteren Fürstin von Lowicz, erfolgte heimliche Thron- entsagung Constantins war niemals Etwas ins Publikum gedrungen, son- dern dieselbe wurde vielmehr stets als ein tiefes Geheimniß zwischen ihm und seinem Bruder Alexander behandelt, dessen Schleier sich erst lüftete, als nach dem Tode des Letzteren dem zusammengetretenen Reichstag ein Packet übergeben wurde, auf welches Alexander eigenhändig geschrieben hatte: „ Vom Reichsrath aufzubewahren, bis ich anders darüber verfüge; für den Fall meines Todes aber in einer außer- ordentlichen Sitzung des Rathes zu eröffnen, bevor man zu irgend einer andern Verhandlung schreitet. “ Dieses Dokument war ein von Constantin unterm 26. Januar 1822 an den Kaiser gerichteter Brief, in welchem er erklärte, da er sich weder die nöthige Kraft noch das Genie zutraue, um die Stelle eines Sou- verains zu übernehmen, auf welche er vermöge seiner Geburt Ansprüche machen könne, so ersuche er seinen Bruder, dies Recht an denjenigen zu übertragen, dem es nach ihm zustehe. Alexander hatte hierzu durch eine diesem Schreiben zugefügte Acte seine Zustimmung gegeben; somit konnte über die rechtliche Besitzergreifung des Thrones seitens Nicolaus kein Zweifel mehr bestehen, und ist dieselbe auch weder von Constantin, noch vom Reichsrath und dem Senat jemals angefochten worden. Wun- derbar und aller Klarheit ermangelnd erscheint hierbei das Benehmen von Nicolaus; denn als der Reichsrath sich anschickte, dem so klar und be- stimmt bezeichneten Thronfolger den Huldigungseid zu leisten, weigerte er sich auf das Bestimmteste, denselben anzunehmen. Die Garde=Regimenter wurden auf dem Platz vor dem Winterpalast versammelt. Man ließ sie dort in der Kapelle dem neuen Kaiser Constantin den Eid der Treue schwören, alle Erlasse geschahen in seinem Namen, sein in Kupfer ge- stochenes Portrait erschien mit der Unterschrift: Constantin der Erste, Kaiser aller Reußen. Nicolaus mußte seiner Sache sehr gewiß sein, daß er es wagen konnte, öffentlich eine solche Scheinkomödie aufzuführen und trotz der vor- erwähnten, dem Reichsrath von Alexander übergebenen Urkunde seine Thronbesteigung von der nochmaligen Erklärung Constantins abhängig zu machen, daß er auch jetzt noch bei dem Entschluß beharre, seinem Titel und seiner Macht als Czar zu entsagen. Er hatte sich hierin auch nicht getäuscht, denn bereits am 8. Dezember langte von dem Letzteren ein Schreiben aus Warschau an, in welchem er von Neuem seinen unerschüt- terlichen Entschluß, zu seinen Gunsten abzudanken, aussprach. Hätte Nicolaus die ganze Komödie unterlassen, so würde wahrscheinlich das bald darauf folgende Blutbad in Petersburg gänzlich vermieden worden sein; dadurch aber, daß er die Regimenter erst seinem Bruder schwören ließ und dann nachträglich diesen Schwur wieder für sich in Anspruch nahm, bür- dete er sich eine Mitschuld auf, von welcher ihn die Geschichte nicht frei- sprechen konnte, denn er erweckte dadurch bei den Soldaten den Wahn, daß er die Krone usurpire und sie zu einem Treubruch verleiten wolle, was denn auch von den Verschworenen benutzt wurde, um die unwissenden, aber in ihrem Gewissen zweifelhaften Gardetruppen als blinde Werkzeuge für ihre Zwecke zu benutzen, welche, wie wir später sehen werden, auf ein ganz anderes Ziel hinausliefen, als für die Thronbesteigung Constantins zu kämpfen. Uebrigens entbehrte die ganze Verschwörung jedes inneren Haltes und war so leichtsinnig und unvorsichtig angelegt, daß man sich darüber nur wundern kann, wie dieselbe Jahre lang unter den Augen der Behörden fortbestehen und sich entwickeln konnte, ohne entdeckt zu werden. Die inneren Verhältnisse Rußlands sind zur Genüge bekannt. Auch jetzt bildet dort die Masse des Volkes noch einen trägen Körper, dem das geistige Bewußtsein mangelt und bei dem von Denken nicht viel die Rede ist. Vor vierzig Jahren war es daselbst noch schlimmer, und selbstredend konnte von Jntelligenz nur bei denen die Rede sein, die durch Geburt und Vermögen die Mittel besaßen, sich Kenntnisse anzueignen und mit dem Entwicklungsgange der europäischen Civilisation einigermaßen Schritt zu halten. Noch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts war selbst den vornehmen Russen das Reisen ins Ausland auf alle mögliche Weise erschwert worden; es war Grundsatz der Regierung, Alles aufzubieten, um ihre Angehörigen von dem übrigen gebildeten Europa abzusperren und sie nicht durch die fortschreitenden freiheitlichen Jdeen infiziren zu lassen. Erst durch die Kriege von 1813 bis 1814 und durch den dreijährigen Aufenthalt der Okkupations=Armee in Frankreich wurden unter den gebildeten Ständen, und namentlich unter der Jugend andere Ansichten über den Staat und über die Menschenrechte verbreitet, und da diese Jugend hauptsächlich im Heer die höheren Stellen einnahm, da dieses selbst bei allen Umwälzungen in Rußland als Mittel zum Zweck gedient hat, so erklärt sich daraus auf sehr natürliche Weise, weßhalb gerade dort sich der Heerd für die geheimen Gesellschaften bildete. Alexander hatte übrigens selbst durch sein Verhalten einen nicht unerheblichen Anstoß für die Entwickelung freiheitlicher Jdeen in seinem Reich gegeben; denn während er bei seiner Anwesenheit zu Paris mit den eifrigsten Republikanern vertraut verkehrte, erklärte er bei seiner Rückkehr nach Petersburg, „daß der Marsch einer russischen Armee durch Deutschland nach Paris auch Rußland zu Gute kommen würde, denn auch für dieses solle eine neue Epoche eintreten“, und die „Nordische Biene“ durfte damals die Bemerkung wagen: „Die von unserem erhabenen Mo- narchen beschützte Preßfreiheit hat den unschätzbaren Vortheil, die Wahr- heit bis zu den Stufen des Thrones zu bringen; sie kann nur dem miß- fallen, welcher die Absicht hat, den Fürsten von seinem Volk abzusperren.“ Solche Aeußerungen wurden natürlich begierig aufgefangen, und wäh- rend sich auf dem polnischen Reichstage und auf den Universitäten zu Warschau und Krakau der Geist der Freiheit regte, traten auch in Ruß- land gleichzeitig die ersten Anzeichen geheimer politischer Verbindungen hervor. Zunächst bildete sich eine Gesellschaft unter dem Namen „Bund des öffentlichen Wohls“, die in dem ersten und zweiten Armee=Corps be- sonders stark vertreten war und deren Ziele dahin hinausliefen, den bis- herigen staatlichen Zustand umzustürzen und eine neue Ordnung nach modernen europäischen Begriffen herzustellen. An der Spitze dieses bereits im Jahre 1817 ins Leben gerufenen Geheimbundes, welcher theils die aus der französischen Revolution vom Jahre 1789 hervorgegangenen Grundsätze acceptirte, theils die Tendenzen des Tugendbundes und der deutschen Bur- schenschaft verfolgte, stand ein junger Offizier Namens Paul Pestel, während neben ihm Alexander und Nikita Murawieff, sowie Sergius Trubetzkoi als oberste Leiter fungirten. Paul Pestel, zwar von deutscher Herkunft, aber ein geborener Russe, war der Sohn eines General=Gouver- neurs von Sibirien. Er machte die Feldzüge gegen Frankreich mit und wurde nach Beendigung derselben mit dem Rang eines Kapitäns Adjutant des Generals Grafen von Wittgenstein und war, als er in Folge des ver- unglückten Aufstandsversuches zu Petersburg 1825 hingerichtet wurde, Oberst und Kommandeur eines Jnfanterie=Regiments. Aeußerlich unan- sehnlich, belebte ihn doch ein grenzenloser Ehrgeiz, der von nichts Klei- nerem als von einer künftigen Diktatur über Rußland träumte, obgleich die ganze Anlage und Leitung der Verschwörung eine höchst planlose und verschwommene war, so daß man, wie gesagt, sich nur wundern kann, wie die- selbe Jahre lang unentdeckt unter den Augen der Behörden fortzubestehen ver- mochte. Blinder Gehorsam galt bei den Verschworenen als erstes Gesetz, und Pestel wußte, als die Seele der Verschwörung, diesen im vollsten Umfang für sich geltend zu machen. Bei den Aufnahme=Ceremonien spielten bei Ablegung des Eides Dolch, Gift und andere Embleme eine Hauptrolle;

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 7. Berlin, 16. Februar 1868, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt07_1868/4>, abgerufen am 30.04.2024.