Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sonntags-Blatt. Nr. 7. Berlin, 16. Februar 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz] als Erkennungszeichen galt eine am Halse getragene weibliche Figur. Es
gab drei Grade: Brüder, Männer und Bojaren; die Letzteren bildeten die
Vorsteher, welche wieder aus den beiden anderen Klassen jeden Monat die
Aeltesten oder Direktoren zu wählen hatten. Die Tendenz, welche der
Bund verfolgte, war die offen ausgesprochene, neue liberale Jdeen
für Rußland ins Leben zu rufen; doch gingen die Ansichten dabei sehr
auseinander, denn während ein Theil offen die Republik wollte, begnügte
sich der andere mit einer Repräsentativverfassung, in welcher noch eine dritte
Partei die kaiserliche Macht auf Null reduziren wollte.

Während sich auf diese Weise der "Bund des öffentlichen Wohls"
konstituirte, rief gleichzeitig der General=Major Michael Orloff eine zweite
geheime Gesellschaft zu St. Petersburg unter dem Titel "der russische
Ritterbund" ins Leben. Orloff gehörte einem der vornehmsten Adels-
geschlechter Rußlands an. Er stand im hohen Ansehen bei Alexander, dem
er, als ein Anhänger des konstitutionellen Systems, schon gleich nach dem
Pariser Friedensschluß den Rath ertheilt hatte, auch Rußland eine Ver-
fassung zu geben. Der Zweck der von ihm gestifteten Gesellschaft bestand
zunächst darin, zuerst den ungeheuren Verschwendungen und sonstigen
Mißbräuchen, welche sich in der inneren Verwaltung des Reiches vor-
fanden, eine Grenze zu setzen, dann aber auch den in Polen zur Wieder-
herstellung dieses Reiches bestehenden geheimen Verbindungen im Jnteresse
Rußlands ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Beide hier genannte Ge-
sellschaften erstrebten eine Vereinigung mit einander, ohne daß dies jedoch
bei den weit auseinandergehenden Tendenzen glückte. Doch hatte es die
Folge, daß sich noch ein neuer Bund unter dem Titel "Gesellschaft des öffent-
lichen Wohls" konstituirte, deren Stifter die beiden Brüder Alexander und
Michael Murawieff, so wie der Fürst Trubetzkoi waren, während noch
andere ausgezeichnete Persönlichkeiten, wie z. B. der auf deutschen Univer-
sitäten ausgebildete Staatsrath Nicolaus Turghenieff und Artaman, Oberst
eines Husaren=Regiments, dazu gehörten. Die Tendenz dieses Bundes war eine
sehr gemäßigte; denn derselbe erklärte in dem "grünen Buche", seinem
Codex desselben, daß das Wohl des Vaterlandes das einzige Ziel
sei und daß man daher der Regierung zur Beförderung alles Guten
die Hand zu bieten bereit sei, daß sich die Gesellschaft nur darum mit
dem Schleier des Geheimnisses umgebe, um nicht falschen Deutungen des
Hasses und des Uebelwollens ausgesetzt zu sein, was allerdings bei den
mächtigen Stützen, welche ein korrumpirtes Regierungssystem noch bis zum
heutigen Tage in Rußland gefunden hat, zu erwarten stand. Einer der
Stifter der Gesellschaft Michael Murawieff, schlug sogar in öffentlicher
Sitzung vor, Alexander die Statuten vorzulegen und seine Sanktion zu
denselben einzuholen; doch blieb er mit seinem Antrag in der Minorität.

( Fortsetzung folgt. )



Zu Esel und zu Fuß.
( Fortsetzung. )

Da rang sich plötzlich ein völlig unnachahmlicher Laut Tonino's durch
die Staubwolke vor mir, und augenblicklich rannte miccio, wie in Todes-
angst, wenigstens zehn Schritte weit vorwärts. Auf neues Geschrei neues
Vorwärtsstürzen. Als aber auch dieser Zuruf nichts mehr fruchtete, nahete
sich funkelnden Auges Tonino selbst, und kaum hatte er, wie mir schien,
nur den Sattel meines Thieres berührt, als dasselbe einen fürchterlichen
Satz machte und dann, wie vom bösen Geist getrieben, dahinjagte.

Die öftere Wiederholung dieses mir wunderbar erscheinenden Experi-
ments ließ mich endlich die Finger des Zauberkünstlers etwas genauer ver-
folgen, und ich entdeckte dann, daß mein armes Vieh unter dem Sattel
ein zolltiefes Loch hatte, in welches der Bube, um seinem Pflegebefohlenen
Lust zur Arbeit zu machen, den Finger zu bohren pflegte. Diese Ent-
deckung machen und dem jungen Teufel gegen alle meine liberalen
Grundsätze einen gesunden deutschen Hieb über den Rücken ziehen, war
Eins. Das Bürschchen konnte aber durchaus nicht begreifen, was es Un-
rechtes gethan haben sollte. Er starrte mich von nun an in einem fort
an und schüttelte das zottige Haupt, als ob ich ein wahres Musterbild von
einem Narren sei, und wenn Mietz jetzt einmal wieder stehen blieb und
ich mich mit tausenderlei Künsten meiner Art abquälte, den Starrköpfigen
vorwärts zu bringen, schnitt sein sinnreicher Führer stets, aber immer auf
vier Stocklängen Entfernung, die höhnischsten Grimassen und wollte sich
todtlachen über den verrückten Jnglese.

Jn allerhand Gedanken über den Gemüthszustand eines doch mit so
viel geistlichen Lehrern gesegneten Volkes, das ja auch, wie ich ebenfalls
einmal zu beobachten Gelegenheit hatte, lebendige Mäuse in Spiritus
taucht, diesen anzündet und dann jubelnd, aber immer graziös, um das
in Todesangst kreisende Opfer her kauert -- also in Gedanken über dieses
Volk verloren, mußte ich meinem Eselein plötzlich selbst Halt gebieten, weil
eben aus einem Nebengäßchen ein Leichenzug in die von uns verfolgte
Straße einbog.

Der Sarg, sehr schmal und niedrig, wurde begleitet und getragen von
einer jener verkappten Brüderschaften, die einen so gespensterhaften Anblick
gewähren. Jhre Kappe, die Fortsetzung einer Art Mönchskutte, hüllt
Kopf und Gesicht vollständig ein und hat nur zwei kleine Oeffnungen für
die Augen, so daß das Kostüm für einen Knecht Ruprecht außerordentlich
passend sein würde. Von Rom her gewöhnt, den Todten die größte Ehr-
furcht bezeigen zu sehen, zog ich meinen Hut, machte aber bald die Be-
merkung, daß der Neapolitaner auch in dieser Beziehung gänzlich von dem viel
ernsteren und edleren Römer verschieden sei. Was die Ursache war, weiß
ich nicht, ich sah nur, daß einer der vermummten Träger plötzlich seinen
Vordermann mit geballter Faust in den Nacken schlug; dieser gab un-
verweilt den Schlag zurück, und in einem Moment hatte sich die wü-
thendste Prügelei unter den Todtenträgern entwickelt. Der Sarg flog auf
[Spaltenumbruch] die Erde, wurde wieder emporgerissen, flog von Neuem zu Boden, man
hörte den Kopf des Todten an den Sargdeckel schlagen; die eben noch so
feierlich dahinschreitenden Spukgestalten wälzten sich über und unter ein-
ander im Staub, das entsetzlichste Fluchen und Brüllen begleitete die dra-
matische Handlung, und der Geistliche stand so gleichgültig daneben, und
das Volk schritt so ruhig vorüber, als ob sich die Geschichte ganz von
selbst verstehe.

Jch wüßte in der That nicht, was mich jemals mehr empört hätte,
als dieser Anblick. O wie gern wäre ich, meine Grundsätze aufs Neue
vergessend, der Riese Briareus gewesen, um mit hundert Händen zugleich
der ganzen vermummten Rotte, dem Herrn Geistlichen obenan, meine
Gefühle zu erkennen zu geben! Das ist das bigotte, in Glaubenstüchtig-
keit und Ketzerhaß selbst dem besten Tyroler nicht nachstehende Volk von
Neapel! Jn Rom, dem in religiöser Hinsicht ganz unstreitig viel frei-
sinnigeren Rom, wäre eine solche Scene geradezu unmöglich gewesen. Das
Volk würde eine solche, dem Todten angethane Schmach, möchte er nun
ein mortone ( großer Todter, der viel Heuler bezahlt ) oder ein mortaccio
( erbärmlicher Todter, den wenig oder keine Heuler begleiten ) gewesen sein,
ganz sicherlich nicht geduldet haben. Es wurde mir immer klarer, daß der
Römer mit seinem Hasse und seiner Verachtung gegen den Charakter der
Neapolitaner so Unrecht eigentlich nicht hat.

Endlich, immer bergauf kletternd, hatten wir das Chaos der schmutzigen
Gassen hinter uns. Der Weg, ziemlich uninteressant, führte uns von nun
an bald durch hohe Gartenmauern, bald durch freieres Feld dahin, während
der Esel und die schon sinkende Sonne noch einmal alle Kräfte anstrengten,
um den letzten Rest männlicher Haltung aus mir herauszuquälen. O wie
beneidete ich meine Frau, die wohl eine Viertelstunde früher als ich mit
ihrem zerlumpten Führer in dem schönen Walde ankam, der die Kuppe des
Berges, auf welchem Camaldoli liegt, umschließt. Nie war mir ein Laub-
dach willkommener, und obgleich es eine Zeit war, in der man, nach den Ver-
sicherungen der Neapolitaner, hinter jedem Busch, auch in der nächsten
Nähe der Stadt, wenigstens ein Dutzend auf Menschenohren versessene
Briganten erwarten konnte, so begrüßte ich doch die immergrünen Eichen,
die Buchen und Kastanien als wahre Retter aus der Noth. Der Weg
wurde immer steiler, felsiger, an manchen Stellen sehr zerklüftet. Jch
wollte absteigen, aber Tonino's Ehre schien dadurch im höchsten Grade
verletzt. "Ein Esel fällt nie, Signore!" rief er aus, als wir eben eine
besonders abschüssige Stelle passirten. "Ein Esel ist viel sicherer auf den
Füßen, als ein Mensch; ein Esel --" Krach! war das Unglück da, und
Mensch und Esel, Regenschirm und Reisebuch flogen, die Lebenden mit
dem Kopf vornweg, den Abhang hinunter auf das spitze Gestein. Meine
Frau stieß einen lauten Schrei aus, als sie plötzlich sechs Beine, darunter
die ihres Eheherrn, in der Luft telegraphiren sah; der gottlose Tonino
aber stand höchst beruhigt oben und grunzte nur immer: " Oibo, Signore!
Oibo
!"

Es wäre recht hübsch gewesen, wenn ich dort oben mit einem zer-
brochenen Gliede gelegen hätte; doch fand ich, nachdem ich mich aufgerafft,
mein ganzes Gebein in gehöriger Ordnung. Die Ursache des Sturzes war
bald entdeckt. Miccio erwies sich nämlich auf beiden Augen total blind.
Auch der Esel meiner Frau wurde jetzt als einäugig erkannt. Darüber
entspann sich dann ein äußerst lebhafter Dialog zwischen Tonino und mir,
der damit endigte, daß ich, trotz der heiligsten Schwüre Tonino's, ein Esel
brauche gar keine Augen, er fände seinen Weg auch in der dunkelsten
Nacht, dem sich jetzt aber in acht Stocklängen Entfernung haltenden
Schlingel erklärte, wir würden nicht einen Pfennig bezahlen, er solle sich
mit seinem verwünschten Viehzeug nach Neapel zurückscheeren; auch keuch-
ten wir nun in der That unsern Weg zu Fuß weiter. Tonino aber nahm
ruhig seine beiden, mit acht Füßen, aber nur einem Auge versehenen Lieb-
linge an die Hand, folgte uns in gemessener Entfernung, schälte sich eine
Apfelsine nach der andern und kreischte nur manchmal eine Aufforderung
an uns, wieder aufzusteigen, durch den schattigen Wald.

Von Schweiß triefend, ich mit heftigen Schmerzen am Ellenbogen und
Knie, kamen wir endlich todtmüde auf dem Gipfel des Berges und auf
dem durch Wald und Gebüsch vor jeder Aussicht [unleserliches Material - 9 Zeichen fehlen]bewabrten Platz vor dem
Klosterthor an. Jch warf mich sogleich unter die erste beste Pinie, schickte
einige Bettler und den Custode, die sofort über uns herfielen, zu allen
Teufeln, kühlte, so gut es ging, meine Wunden und pfiff dabei so seelen-
voll, als ich vermochte: "Kennst du das Land, wo die Citronen blühn?
Dahin, dahin" u. s. w. Jch wäre auch nicht so bald wieder emporzubrin-
gen gewesen, wenn uns nicht ein weißkuttiger, sehr freundlicher, auch etwas
weniger schmutziger Mönch bedeutet hätte, daß wir den schönsten Augen-
blick versäumen würden, wenn wir nicht sofort zum Pavillon eilten. So
raffte ich mich denn empor, und wir folgten, ich hinkend, brummend, mit
einem Gesicht, welches Bädeker recht wohl als abschreckendes Beispiel aufs
Titelblatt setzen könnte, dem Custode, der uns auf tiefschattigem Fußpfade
durch einen dichten Kastanienhain um den Berg herumführte. Am Ende des
Pfades öffnete er ein verschlossenes Gitter, und wir traten nun aus dem
bis jetzt jede Aussicht gänzlich verhindernden Walde plötzlich in den kleinen,
auf einem Felsenvorsprunge erbauten, nach allen Richtungen offenen, welt-
berühmten Pavillon ein.

Wenn plötzlich ein Blitzstrahl vor Jemandem niederfährt, wenn ein Kind,
das noch nie ein Theater geschaut, den Vorhang sich heben und plötzlich eine,
Alles, was seine Phantasie hat erschaffen können, übertreffende Feen= und
Elfenscene vor sich sieht, so kann es nicht stärker zusammenbeben, als ich
bei dem Anblick erbebte, der sich jetzt vor unseren Augen aufthat. Jch
stieß, wie es wohl schon Tausende und aber Tausende vor mir gethan
haben, einen lauten Schrei aus, und erinnere mich noch ganz deutlich, wie
ich an allen Gliedern zitterte.

( Schluß folgt. )



[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] als Erkennungszeichen galt eine am Halse getragene weibliche Figur. Es
gab drei Grade: Brüder, Männer und Bojaren; die Letzteren bildeten die
Vorsteher, welche wieder aus den beiden anderen Klassen jeden Monat die
Aeltesten oder Direktoren zu wählen hatten. Die Tendenz, welche der
Bund verfolgte, war die offen ausgesprochene, neue liberale Jdeen
für Rußland ins Leben zu rufen; doch gingen die Ansichten dabei sehr
auseinander, denn während ein Theil offen die Republik wollte, begnügte
sich der andere mit einer Repräsentativverfassung, in welcher noch eine dritte
Partei die kaiserliche Macht auf Null reduziren wollte.

Während sich auf diese Weise der „Bund des öffentlichen Wohls“
konstituirte, rief gleichzeitig der General=Major Michael Orloff eine zweite
geheime Gesellschaft zu St. Petersburg unter dem Titel „der russische
Ritterbund“ ins Leben. Orloff gehörte einem der vornehmsten Adels-
geschlechter Rußlands an. Er stand im hohen Ansehen bei Alexander, dem
er, als ein Anhänger des konstitutionellen Systems, schon gleich nach dem
Pariser Friedensschluß den Rath ertheilt hatte, auch Rußland eine Ver-
fassung zu geben. Der Zweck der von ihm gestifteten Gesellschaft bestand
zunächst darin, zuerst den ungeheuren Verschwendungen und sonstigen
Mißbräuchen, welche sich in der inneren Verwaltung des Reiches vor-
fanden, eine Grenze zu setzen, dann aber auch den in Polen zur Wieder-
herstellung dieses Reiches bestehenden geheimen Verbindungen im Jnteresse
Rußlands ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Beide hier genannte Ge-
sellschaften erstrebten eine Vereinigung mit einander, ohne daß dies jedoch
bei den weit auseinandergehenden Tendenzen glückte. Doch hatte es die
Folge, daß sich noch ein neuer Bund unter dem Titel „Gesellschaft des öffent-
lichen Wohls“ konstituirte, deren Stifter die beiden Brüder Alexander und
Michael Murawieff, so wie der Fürst Trubetzkoi waren, während noch
andere ausgezeichnete Persönlichkeiten, wie z. B. der auf deutschen Univer-
sitäten ausgebildete Staatsrath Nicolaus Turghenieff und Artaman, Oberst
eines Husaren=Regiments, dazu gehörten. Die Tendenz dieses Bundes war eine
sehr gemäßigte; denn derselbe erklärte in dem „grünen Buche“, seinem
Codex desselben, daß das Wohl des Vaterlandes das einzige Ziel
sei und daß man daher der Regierung zur Beförderung alles Guten
die Hand zu bieten bereit sei, daß sich die Gesellschaft nur darum mit
dem Schleier des Geheimnisses umgebe, um nicht falschen Deutungen des
Hasses und des Uebelwollens ausgesetzt zu sein, was allerdings bei den
mächtigen Stützen, welche ein korrumpirtes Regierungssystem noch bis zum
heutigen Tage in Rußland gefunden hat, zu erwarten stand. Einer der
Stifter der Gesellschaft Michael Murawieff, schlug sogar in öffentlicher
Sitzung vor, Alexander die Statuten vorzulegen und seine Sanktion zu
denselben einzuholen; doch blieb er mit seinem Antrag in der Minorität.

( Fortsetzung folgt. )



Zu Esel und zu Fuß.
( Fortsetzung. )

Da rang sich plötzlich ein völlig unnachahmlicher Laut Tonino's durch
die Staubwolke vor mir, und augenblicklich rannte miccio, wie in Todes-
angst, wenigstens zehn Schritte weit vorwärts. Auf neues Geschrei neues
Vorwärtsstürzen. Als aber auch dieser Zuruf nichts mehr fruchtete, nahete
sich funkelnden Auges Tonino selbst, und kaum hatte er, wie mir schien,
nur den Sattel meines Thieres berührt, als dasselbe einen fürchterlichen
Satz machte und dann, wie vom bösen Geist getrieben, dahinjagte.

Die öftere Wiederholung dieses mir wunderbar erscheinenden Experi-
ments ließ mich endlich die Finger des Zauberkünstlers etwas genauer ver-
folgen, und ich entdeckte dann, daß mein armes Vieh unter dem Sattel
ein zolltiefes Loch hatte, in welches der Bube, um seinem Pflegebefohlenen
Lust zur Arbeit zu machen, den Finger zu bohren pflegte. Diese Ent-
deckung machen und dem jungen Teufel gegen alle meine liberalen
Grundsätze einen gesunden deutschen Hieb über den Rücken ziehen, war
Eins. Das Bürschchen konnte aber durchaus nicht begreifen, was es Un-
rechtes gethan haben sollte. Er starrte mich von nun an in einem fort
an und schüttelte das zottige Haupt, als ob ich ein wahres Musterbild von
einem Narren sei, und wenn Mietz jetzt einmal wieder stehen blieb und
ich mich mit tausenderlei Künsten meiner Art abquälte, den Starrköpfigen
vorwärts zu bringen, schnitt sein sinnreicher Führer stets, aber immer auf
vier Stocklängen Entfernung, die höhnischsten Grimassen und wollte sich
todtlachen über den verrückten Jnglese.

Jn allerhand Gedanken über den Gemüthszustand eines doch mit so
viel geistlichen Lehrern gesegneten Volkes, das ja auch, wie ich ebenfalls
einmal zu beobachten Gelegenheit hatte, lebendige Mäuse in Spiritus
taucht, diesen anzündet und dann jubelnd, aber immer graziös, um das
in Todesangst kreisende Opfer her kauert — also in Gedanken über dieses
Volk verloren, mußte ich meinem Eselein plötzlich selbst Halt gebieten, weil
eben aus einem Nebengäßchen ein Leichenzug in die von uns verfolgte
Straße einbog.

Der Sarg, sehr schmal und niedrig, wurde begleitet und getragen von
einer jener verkappten Brüderschaften, die einen so gespensterhaften Anblick
gewähren. Jhre Kappe, die Fortsetzung einer Art Mönchskutte, hüllt
Kopf und Gesicht vollständig ein und hat nur zwei kleine Oeffnungen für
die Augen, so daß das Kostüm für einen Knecht Ruprecht außerordentlich
passend sein würde. Von Rom her gewöhnt, den Todten die größte Ehr-
furcht bezeigen zu sehen, zog ich meinen Hut, machte aber bald die Be-
merkung, daß der Neapolitaner auch in dieser Beziehung gänzlich von dem viel
ernsteren und edleren Römer verschieden sei. Was die Ursache war, weiß
ich nicht, ich sah nur, daß einer der vermummten Träger plötzlich seinen
Vordermann mit geballter Faust in den Nacken schlug; dieser gab un-
verweilt den Schlag zurück, und in einem Moment hatte sich die wü-
thendste Prügelei unter den Todtenträgern entwickelt. Der Sarg flog auf
[Spaltenumbruch] die Erde, wurde wieder emporgerissen, flog von Neuem zu Boden, man
hörte den Kopf des Todten an den Sargdeckel schlagen; die eben noch so
feierlich dahinschreitenden Spukgestalten wälzten sich über und unter ein-
ander im Staub, das entsetzlichste Fluchen und Brüllen begleitete die dra-
matische Handlung, und der Geistliche stand so gleichgültig daneben, und
das Volk schritt so ruhig vorüber, als ob sich die Geschichte ganz von
selbst verstehe.

Jch wüßte in der That nicht, was mich jemals mehr empört hätte,
als dieser Anblick. O wie gern wäre ich, meine Grundsätze aufs Neue
vergessend, der Riese Briareus gewesen, um mit hundert Händen zugleich
der ganzen vermummten Rotte, dem Herrn Geistlichen obenan, meine
Gefühle zu erkennen zu geben! Das ist das bigotte, in Glaubenstüchtig-
keit und Ketzerhaß selbst dem besten Tyroler nicht nachstehende Volk von
Neapel! Jn Rom, dem in religiöser Hinsicht ganz unstreitig viel frei-
sinnigeren Rom, wäre eine solche Scene geradezu unmöglich gewesen. Das
Volk würde eine solche, dem Todten angethane Schmach, möchte er nun
ein mortone ( großer Todter, der viel Heuler bezahlt ) oder ein mortaccio
( erbärmlicher Todter, den wenig oder keine Heuler begleiten ) gewesen sein,
ganz sicherlich nicht geduldet haben. Es wurde mir immer klarer, daß der
Römer mit seinem Hasse und seiner Verachtung gegen den Charakter der
Neapolitaner so Unrecht eigentlich nicht hat.

Endlich, immer bergauf kletternd, hatten wir das Chaos der schmutzigen
Gassen hinter uns. Der Weg, ziemlich uninteressant, führte uns von nun
an bald durch hohe Gartenmauern, bald durch freieres Feld dahin, während
der Esel und die schon sinkende Sonne noch einmal alle Kräfte anstrengten,
um den letzten Rest männlicher Haltung aus mir herauszuquälen. O wie
beneidete ich meine Frau, die wohl eine Viertelstunde früher als ich mit
ihrem zerlumpten Führer in dem schönen Walde ankam, der die Kuppe des
Berges, auf welchem Camaldoli liegt, umschließt. Nie war mir ein Laub-
dach willkommener, und obgleich es eine Zeit war, in der man, nach den Ver-
sicherungen der Neapolitaner, hinter jedem Busch, auch in der nächsten
Nähe der Stadt, wenigstens ein Dutzend auf Menschenohren versessene
Briganten erwarten konnte, so begrüßte ich doch die immergrünen Eichen,
die Buchen und Kastanien als wahre Retter aus der Noth. Der Weg
wurde immer steiler, felsiger, an manchen Stellen sehr zerklüftet. Jch
wollte absteigen, aber Tonino's Ehre schien dadurch im höchsten Grade
verletzt. „Ein Esel fällt nie, Signore!“ rief er aus, als wir eben eine
besonders abschüssige Stelle passirten. „Ein Esel ist viel sicherer auf den
Füßen, als ein Mensch; ein Esel —“ Krach! war das Unglück da, und
Mensch und Esel, Regenschirm und Reisebuch flogen, die Lebenden mit
dem Kopf vornweg, den Abhang hinunter auf das spitze Gestein. Meine
Frau stieß einen lauten Schrei aus, als sie plötzlich sechs Beine, darunter
die ihres Eheherrn, in der Luft telegraphiren sah; der gottlose Tonino
aber stand höchst beruhigt oben und grunzte nur immer: „ Oibo, Signore!
Oibo
!“

Es wäre recht hübsch gewesen, wenn ich dort oben mit einem zer-
brochenen Gliede gelegen hätte; doch fand ich, nachdem ich mich aufgerafft,
mein ganzes Gebein in gehöriger Ordnung. Die Ursache des Sturzes war
bald entdeckt. Miccio erwies sich nämlich auf beiden Augen total blind.
Auch der Esel meiner Frau wurde jetzt als einäugig erkannt. Darüber
entspann sich dann ein äußerst lebhafter Dialog zwischen Tonino und mir,
der damit endigte, daß ich, trotz der heiligsten Schwüre Tonino's, ein Esel
brauche gar keine Augen, er fände seinen Weg auch in der dunkelsten
Nacht, dem sich jetzt aber in acht Stocklängen Entfernung haltenden
Schlingel erklärte, wir würden nicht einen Pfennig bezahlen, er solle sich
mit seinem verwünschten Viehzeug nach Neapel zurückscheeren; auch keuch-
ten wir nun in der That unsern Weg zu Fuß weiter. Tonino aber nahm
ruhig seine beiden, mit acht Füßen, aber nur einem Auge versehenen Lieb-
linge an die Hand, folgte uns in gemessener Entfernung, schälte sich eine
Apfelsine nach der andern und kreischte nur manchmal eine Aufforderung
an uns, wieder aufzusteigen, durch den schattigen Wald.

Von Schweiß triefend, ich mit heftigen Schmerzen am Ellenbogen und
Knie, kamen wir endlich todtmüde auf dem Gipfel des Berges und auf
dem durch Wald und Gebüsch vor jeder Aussicht [unleserliches Material – 9 Zeichen fehlen]bewabrten Platz vor dem
Klosterthor an. Jch warf mich sogleich unter die erste beste Pinie, schickte
einige Bettler und den Custode, die sofort über uns herfielen, zu allen
Teufeln, kühlte, so gut es ging, meine Wunden und pfiff dabei so seelen-
voll, als ich vermochte: „Kennst du das Land, wo die Citronen blühn?
Dahin, dahin“ u. s. w. Jch wäre auch nicht so bald wieder emporzubrin-
gen gewesen, wenn uns nicht ein weißkuttiger, sehr freundlicher, auch etwas
weniger schmutziger Mönch bedeutet hätte, daß wir den schönsten Augen-
blick versäumen würden, wenn wir nicht sofort zum Pavillon eilten. So
raffte ich mich denn empor, und wir folgten, ich hinkend, brummend, mit
einem Gesicht, welches Bädeker recht wohl als abschreckendes Beispiel aufs
Titelblatt setzen könnte, dem Custode, der uns auf tiefschattigem Fußpfade
durch einen dichten Kastanienhain um den Berg herumführte. Am Ende des
Pfades öffnete er ein verschlossenes Gitter, und wir traten nun aus dem
bis jetzt jede Aussicht gänzlich verhindernden Walde plötzlich in den kleinen,
auf einem Felsenvorsprunge erbauten, nach allen Richtungen offenen, welt-
berühmten Pavillon ein.

Wenn plötzlich ein Blitzstrahl vor Jemandem niederfährt, wenn ein Kind,
das noch nie ein Theater geschaut, den Vorhang sich heben und plötzlich eine,
Alles, was seine Phantasie hat erschaffen können, übertreffende Feen= und
Elfenscene vor sich sieht, so kann es nicht stärker zusammenbeben, als ich
bei dem Anblick erbebte, der sich jetzt vor unseren Augen aufthat. Jch
stieß, wie es wohl schon Tausende und aber Tausende vor mir gethan
haben, einen lauten Schrei aus, und erinnere mich noch ganz deutlich, wie
ich an allen Gliedern zitterte.

( Schluß folgt. )



[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div xml:id="geheim1" type="jArticle" n="2">
          <p><pb facs="#f0005" n="53"/><fw type="pageNum" place="top">53</fw><cb type="start"/>
als Erkennungszeichen galt eine am Halse getragene weibliche Figur. Es<lb/>
gab drei Grade: Brüder, Männer und Bojaren; die Letzteren bildeten die<lb/>
Vorsteher, welche wieder aus den beiden anderen Klassen jeden Monat die<lb/>
Aeltesten oder Direktoren zu wählen hatten. Die Tendenz, welche der<lb/>
Bund verfolgte, war die offen ausgesprochene, neue liberale Jdeen<lb/>
für Rußland ins Leben zu rufen; doch gingen die Ansichten dabei sehr<lb/>
auseinander, denn während ein Theil offen die Republik wollte, begnügte<lb/>
sich der andere mit einer Repräsentativverfassung, in welcher noch eine dritte<lb/>
Partei die kaiserliche Macht auf Null reduziren wollte.</p><lb/>
          <p>Während sich auf diese Weise der &#x201E;Bund des öffentlichen Wohls&#x201C;<lb/>
konstituirte, rief gleichzeitig der General=Major Michael Orloff eine zweite<lb/>
geheime Gesellschaft zu St. Petersburg unter dem Titel &#x201E;der russische<lb/>
Ritterbund&#x201C; ins Leben. Orloff gehörte einem der vornehmsten Adels-<lb/>
geschlechter Rußlands an. Er stand im hohen Ansehen bei Alexander, dem<lb/>
er, als ein Anhänger des konstitutionellen Systems, schon gleich nach dem<lb/>
Pariser Friedensschluß den Rath ertheilt hatte, auch Rußland eine Ver-<lb/>
fassung zu geben. Der Zweck der von ihm gestifteten Gesellschaft bestand<lb/>
zunächst darin, zuerst den ungeheuren Verschwendungen und sonstigen<lb/>
Mißbräuchen, welche sich in der inneren Verwaltung des Reiches vor-<lb/>
fanden, eine Grenze zu setzen, dann aber auch den in Polen zur Wieder-<lb/>
herstellung dieses Reiches bestehenden geheimen Verbindungen im Jnteresse<lb/>
Rußlands ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Beide hier genannte Ge-<lb/>
sellschaften erstrebten eine Vereinigung mit einander, ohne daß dies jedoch<lb/>
bei den weit auseinandergehenden Tendenzen glückte. Doch hatte es die<lb/>
Folge, daß sich noch ein neuer Bund unter dem Titel &#x201E;Gesellschaft des öffent-<lb/>
lichen Wohls&#x201C; konstituirte, deren Stifter die beiden Brüder Alexander und<lb/>
Michael Murawieff, so wie der Fürst Trubetzkoi waren, während noch<lb/>
andere ausgezeichnete Persönlichkeiten, wie z. B. der auf deutschen Univer-<lb/>
sitäten ausgebildete Staatsrath Nicolaus Turghenieff und Artaman, Oberst<lb/>
eines Husaren=Regiments, dazu gehörten. Die Tendenz dieses Bundes war eine<lb/>
sehr gemäßigte; denn derselbe erklärte in dem &#x201E;grünen Buche&#x201C;, seinem<lb/>
Codex desselben, daß das Wohl des Vaterlandes das einzige Ziel<lb/>
sei und daß man daher der Regierung zur Beförderung alles Guten<lb/>
die Hand zu bieten bereit sei, daß sich die Gesellschaft nur darum mit<lb/>
dem Schleier des Geheimnisses umgebe, um nicht falschen Deutungen des<lb/>
Hasses und des Uebelwollens ausgesetzt zu sein, was allerdings bei den<lb/>
mächtigen Stützen, welche ein korrumpirtes Regierungssystem noch bis zum<lb/>
heutigen Tage in Rußland gefunden hat, zu erwarten stand. Einer der<lb/>
Stifter der Gesellschaft Michael Murawieff, schlug sogar in öffentlicher<lb/>
Sitzung vor, Alexander die Statuten vorzulegen und seine Sanktion zu<lb/>
denselben einzuholen; doch blieb er mit seinem Antrag in der Minorität.</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#c">
              <ref target="nn_sonntagsblatt08_1868#geheim2">( Fortsetzung folgt. )</ref>
            </hi> </p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div xml:id="Esel2" type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#fr">Zu Esel und zu Fuß.</hi><lb/>
            <ref target="nn_sonntagsblatt06_1868#Esel1">( Fortsetzung. )</ref>
          </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>a rang sich plötzlich ein völlig unnachahmlicher Laut Tonino's durch<lb/>
die Staubwolke vor mir, und augenblicklich rannte <hi rendition="#aq">miccio</hi>, wie in Todes-<lb/>
angst, wenigstens zehn Schritte weit vorwärts. Auf neues Geschrei neues<lb/>
Vorwärtsstürzen. Als aber auch dieser Zuruf nichts mehr fruchtete, nahete<lb/>
sich funkelnden Auges Tonino selbst, und kaum hatte er, wie mir schien,<lb/>
nur den Sattel meines Thieres berührt, als dasselbe einen fürchterlichen<lb/>
Satz machte und dann, wie vom bösen Geist getrieben, dahinjagte.</p><lb/>
          <p>Die öftere Wiederholung dieses mir wunderbar erscheinenden Experi-<lb/>
ments ließ mich endlich die Finger des Zauberkünstlers etwas genauer ver-<lb/>
folgen, und ich entdeckte dann, daß mein armes Vieh unter dem Sattel<lb/>
ein zolltiefes Loch hatte, in welches der Bube, um seinem Pflegebefohlenen<lb/>
Lust zur Arbeit zu machen, den Finger zu bohren pflegte. Diese Ent-<lb/>
deckung machen und dem jungen Teufel gegen alle meine liberalen<lb/>
Grundsätze einen gesunden deutschen Hieb über den Rücken ziehen, war<lb/>
Eins. Das Bürschchen konnte aber durchaus nicht begreifen, was es Un-<lb/>
rechtes gethan haben sollte. Er starrte mich von nun an in einem fort<lb/>
an und schüttelte das zottige Haupt, als ob ich ein wahres Musterbild von<lb/>
einem Narren sei, und wenn Mietz jetzt einmal wieder stehen blieb und<lb/>
ich mich mit tausenderlei Künsten meiner Art abquälte, den Starrköpfigen<lb/>
vorwärts zu bringen, schnitt sein sinnreicher Führer stets, aber immer auf<lb/>
vier Stocklängen Entfernung, die höhnischsten Grimassen und wollte sich<lb/>
todtlachen über den verrückten Jnglese.</p><lb/>
          <p>Jn allerhand Gedanken über den Gemüthszustand eines doch mit so<lb/>
viel geistlichen Lehrern gesegneten Volkes, das ja auch, wie ich ebenfalls<lb/>
einmal zu beobachten Gelegenheit hatte, lebendige Mäuse in Spiritus<lb/>
taucht, diesen anzündet und dann jubelnd, aber immer graziös, um das<lb/>
in Todesangst kreisende Opfer her kauert &#x2014; also in Gedanken über dieses<lb/>
Volk verloren, mußte ich meinem Eselein plötzlich selbst Halt gebieten, weil<lb/>
eben aus einem Nebengäßchen ein Leichenzug in die von uns verfolgte<lb/>
Straße einbog.</p><lb/>
          <p>Der Sarg, sehr schmal und niedrig, wurde begleitet und getragen von<lb/>
einer jener verkappten Brüderschaften, die einen so gespensterhaften Anblick<lb/>
gewähren. Jhre Kappe, die Fortsetzung einer Art Mönchskutte, hüllt<lb/>
Kopf und Gesicht vollständig ein und hat nur zwei kleine Oeffnungen für<lb/>
die Augen, so daß das Kostüm für einen Knecht Ruprecht außerordentlich<lb/>
passend sein würde. Von Rom her gewöhnt, den Todten die größte Ehr-<lb/>
furcht bezeigen zu sehen, zog ich meinen Hut, machte aber bald die Be-<lb/>
merkung, daß der Neapolitaner auch in dieser Beziehung gänzlich von dem viel<lb/>
ernsteren und edleren Römer verschieden sei. Was die Ursache war, weiß<lb/>
ich nicht, ich sah nur, daß einer der vermummten Träger plötzlich seinen<lb/>
Vordermann mit geballter Faust in den Nacken schlug; dieser gab un-<lb/>
verweilt den Schlag zurück, und in einem Moment hatte sich die wü-<lb/>
thendste Prügelei unter den Todtenträgern entwickelt. Der Sarg flog auf<lb/><cb n="2"/>
die Erde, wurde wieder emporgerissen, flog von Neuem zu Boden, man<lb/>
hörte den Kopf des Todten an den Sargdeckel schlagen; die eben noch so<lb/>
feierlich dahinschreitenden Spukgestalten wälzten sich über und unter ein-<lb/>
ander im Staub, das entsetzlichste Fluchen und Brüllen begleitete die dra-<lb/>
matische Handlung, und der Geistliche stand so gleichgültig daneben, und<lb/>
das Volk schritt so ruhig vorüber, als ob sich die Geschichte ganz von<lb/>
selbst verstehe.</p><lb/>
          <p>Jch wüßte in der That nicht, was mich jemals mehr empört hätte,<lb/>
als dieser Anblick. O wie gern wäre ich, meine Grundsätze aufs Neue<lb/>
vergessend, der Riese Briareus gewesen, um mit hundert Händen zugleich<lb/>
der ganzen vermummten Rotte, dem Herrn Geistlichen obenan, meine<lb/>
Gefühle zu erkennen zu geben! Das ist das bigotte, in Glaubenstüchtig-<lb/>
keit und Ketzerhaß selbst dem besten Tyroler nicht nachstehende Volk von<lb/>
Neapel! Jn Rom, dem in religiöser Hinsicht ganz unstreitig viel frei-<lb/>
sinnigeren Rom, wäre eine solche Scene geradezu unmöglich gewesen. Das<lb/>
Volk würde eine solche, dem Todten angethane Schmach, möchte er nun<lb/>
ein <hi rendition="#aq">mortone</hi> ( großer Todter, der viel Heuler bezahlt ) oder ein <hi rendition="#aq">mortaccio</hi><lb/>
( erbärmlicher Todter, den wenig oder keine Heuler begleiten ) gewesen sein,<lb/>
ganz sicherlich nicht geduldet haben. Es wurde mir immer klarer, daß der<lb/>
Römer mit seinem Hasse und seiner Verachtung gegen den Charakter der<lb/>
Neapolitaner so Unrecht eigentlich nicht hat.</p><lb/>
          <p>Endlich, immer bergauf kletternd, hatten wir das Chaos der schmutzigen<lb/>
Gassen hinter uns. Der Weg, ziemlich uninteressant, führte uns von nun<lb/>
an bald durch hohe Gartenmauern, bald durch freieres Feld dahin, während<lb/>
der Esel und die schon sinkende Sonne noch einmal alle Kräfte anstrengten,<lb/>
um den letzten Rest männlicher Haltung aus mir herauszuquälen. O wie<lb/>
beneidete ich meine Frau, die wohl eine Viertelstunde früher als ich mit<lb/>
ihrem zerlumpten Führer in dem schönen Walde ankam, der die Kuppe des<lb/>
Berges, auf welchem Camaldoli liegt, umschließt. Nie war mir ein Laub-<lb/>
dach willkommener, und obgleich es eine Zeit war, in der man, nach den Ver-<lb/>
sicherungen der Neapolitaner, hinter jedem Busch, auch in der nächsten<lb/>
Nähe der Stadt, wenigstens ein Dutzend auf Menschenohren versessene<lb/>
Briganten erwarten konnte, so begrüßte ich doch die immergrünen Eichen,<lb/>
die Buchen und Kastanien als wahre Retter aus der Noth. Der Weg<lb/>
wurde immer steiler, felsiger, an manchen Stellen sehr zerklüftet. Jch<lb/>
wollte absteigen, aber Tonino's Ehre schien dadurch im höchsten Grade<lb/>
verletzt. &#x201E;Ein Esel fällt nie, Signore!&#x201C; rief er aus, als wir eben eine<lb/>
besonders abschüssige Stelle passirten. &#x201E;Ein Esel ist viel sicherer auf den<lb/>
Füßen, als ein Mensch; ein Esel &#x2014;&#x201C; Krach! war das Unglück da, und<lb/>
Mensch und Esel, Regenschirm und Reisebuch flogen, die Lebenden mit<lb/>
dem Kopf vornweg, den Abhang hinunter auf das spitze Gestein. Meine<lb/>
Frau stieß einen lauten Schrei aus, als sie plötzlich sechs Beine, darunter<lb/>
die ihres Eheherrn, in der Luft telegraphiren sah; der gottlose Tonino<lb/>
aber stand höchst beruhigt oben und grunzte nur immer: &#x201E; <hi rendition="#aq">Oibo, Signore!<lb/>
Oibo</hi>!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Es wäre recht hübsch gewesen, wenn ich dort oben mit einem zer-<lb/>
brochenen Gliede gelegen hätte; doch fand ich, nachdem ich mich aufgerafft,<lb/>
mein ganzes Gebein in gehöriger Ordnung. Die Ursache des Sturzes war<lb/>
bald entdeckt. Miccio erwies sich nämlich auf beiden Augen total blind.<lb/>
Auch der Esel meiner Frau wurde jetzt als einäugig erkannt. Darüber<lb/>
entspann sich dann ein äußerst lebhafter Dialog zwischen Tonino und mir,<lb/>
der damit endigte, daß ich, trotz der heiligsten Schwüre Tonino's, ein Esel<lb/>
brauche gar keine Augen, er fände seinen Weg auch in der dunkelsten<lb/>
Nacht, dem sich jetzt aber in acht Stocklängen Entfernung haltenden<lb/>
Schlingel erklärte, wir würden nicht einen Pfennig bezahlen, er solle sich<lb/>
mit seinem verwünschten Viehzeug nach Neapel zurückscheeren; auch keuch-<lb/>
ten wir nun in der That unsern Weg zu Fuß weiter. Tonino aber nahm<lb/>
ruhig seine beiden, mit acht Füßen, aber nur einem Auge versehenen Lieb-<lb/>
linge an die Hand, folgte uns in gemessener Entfernung, schälte sich eine<lb/>
Apfelsine nach der andern und kreischte nur manchmal eine Aufforderung<lb/>
an uns, wieder aufzusteigen, durch den schattigen Wald.</p><lb/>
          <p>Von Schweiß triefend, ich mit heftigen Schmerzen am Ellenbogen und<lb/>
Knie, kamen wir endlich todtmüde auf dem Gipfel des Berges und auf<lb/>
dem durch Wald und Gebüsch vor jeder Aussicht <gap reason="illegible" unit="chars" quantity="9"/>bewabrten Platz vor dem<lb/>
Klosterthor an. Jch warf mich sogleich unter die erste beste Pinie, schickte<lb/>
einige Bettler und den Custode, die sofort über uns herfielen, zu allen<lb/>
Teufeln, kühlte, so gut es ging, meine Wunden und pfiff dabei so seelen-<lb/>
voll, als ich vermochte: &#x201E;Kennst du das Land, wo die Citronen blühn?<lb/>
Dahin, dahin&#x201C; u. s. w. Jch wäre auch nicht so bald wieder emporzubrin-<lb/>
gen gewesen, wenn uns nicht ein weißkuttiger, sehr freundlicher, auch etwas<lb/>
weniger schmutziger Mönch bedeutet hätte, daß wir den schönsten Augen-<lb/>
blick versäumen würden, wenn wir nicht sofort zum Pavillon eilten. So<lb/>
raffte ich mich denn empor, und wir folgten, ich hinkend, brummend, mit<lb/>
einem Gesicht, welches Bädeker recht wohl als abschreckendes Beispiel aufs<lb/>
Titelblatt setzen könnte, dem Custode, der uns auf tiefschattigem Fußpfade<lb/>
durch einen dichten Kastanienhain um den Berg herumführte. Am Ende des<lb/>
Pfades öffnete er ein verschlossenes Gitter, und wir traten nun aus dem<lb/>
bis jetzt jede Aussicht gänzlich verhindernden Walde plötzlich in den kleinen,<lb/>
auf einem Felsenvorsprunge erbauten, nach allen Richtungen offenen, welt-<lb/>
berühmten Pavillon ein.</p><lb/>
          <p>Wenn plötzlich ein Blitzstrahl vor Jemandem niederfährt, wenn ein Kind,<lb/>
das noch nie ein Theater geschaut, den Vorhang sich heben und plötzlich eine,<lb/>
Alles, was seine Phantasie hat erschaffen können, übertreffende Feen= und<lb/>
Elfenscene vor sich sieht, so kann es nicht stärker zusammenbeben, als ich<lb/>
bei dem Anblick erbebte, der sich jetzt vor unseren Augen aufthat. Jch<lb/>
stieß, wie es wohl schon Tausende und aber Tausende vor mir gethan<lb/>
haben, einen lauten Schrei aus, und erinnere mich noch ganz deutlich, wie<lb/>
ich an allen Gliedern zitterte.</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#c">
              <ref target="nn_sonntagsblatt08_1868#Esel3">( Schluß folgt. )</ref>
            </hi> </p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <cb type="end"/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0005] 53 als Erkennungszeichen galt eine am Halse getragene weibliche Figur. Es gab drei Grade: Brüder, Männer und Bojaren; die Letzteren bildeten die Vorsteher, welche wieder aus den beiden anderen Klassen jeden Monat die Aeltesten oder Direktoren zu wählen hatten. Die Tendenz, welche der Bund verfolgte, war die offen ausgesprochene, neue liberale Jdeen für Rußland ins Leben zu rufen; doch gingen die Ansichten dabei sehr auseinander, denn während ein Theil offen die Republik wollte, begnügte sich der andere mit einer Repräsentativverfassung, in welcher noch eine dritte Partei die kaiserliche Macht auf Null reduziren wollte. Während sich auf diese Weise der „Bund des öffentlichen Wohls“ konstituirte, rief gleichzeitig der General=Major Michael Orloff eine zweite geheime Gesellschaft zu St. Petersburg unter dem Titel „der russische Ritterbund“ ins Leben. Orloff gehörte einem der vornehmsten Adels- geschlechter Rußlands an. Er stand im hohen Ansehen bei Alexander, dem er, als ein Anhänger des konstitutionellen Systems, schon gleich nach dem Pariser Friedensschluß den Rath ertheilt hatte, auch Rußland eine Ver- fassung zu geben. Der Zweck der von ihm gestifteten Gesellschaft bestand zunächst darin, zuerst den ungeheuren Verschwendungen und sonstigen Mißbräuchen, welche sich in der inneren Verwaltung des Reiches vor- fanden, eine Grenze zu setzen, dann aber auch den in Polen zur Wieder- herstellung dieses Reiches bestehenden geheimen Verbindungen im Jnteresse Rußlands ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Beide hier genannte Ge- sellschaften erstrebten eine Vereinigung mit einander, ohne daß dies jedoch bei den weit auseinandergehenden Tendenzen glückte. Doch hatte es die Folge, daß sich noch ein neuer Bund unter dem Titel „Gesellschaft des öffent- lichen Wohls“ konstituirte, deren Stifter die beiden Brüder Alexander und Michael Murawieff, so wie der Fürst Trubetzkoi waren, während noch andere ausgezeichnete Persönlichkeiten, wie z. B. der auf deutschen Univer- sitäten ausgebildete Staatsrath Nicolaus Turghenieff und Artaman, Oberst eines Husaren=Regiments, dazu gehörten. Die Tendenz dieses Bundes war eine sehr gemäßigte; denn derselbe erklärte in dem „grünen Buche“, seinem Codex desselben, daß das Wohl des Vaterlandes das einzige Ziel sei und daß man daher der Regierung zur Beförderung alles Guten die Hand zu bieten bereit sei, daß sich die Gesellschaft nur darum mit dem Schleier des Geheimnisses umgebe, um nicht falschen Deutungen des Hasses und des Uebelwollens ausgesetzt zu sein, was allerdings bei den mächtigen Stützen, welche ein korrumpirtes Regierungssystem noch bis zum heutigen Tage in Rußland gefunden hat, zu erwarten stand. Einer der Stifter der Gesellschaft Michael Murawieff, schlug sogar in öffentlicher Sitzung vor, Alexander die Statuten vorzulegen und seine Sanktion zu denselben einzuholen; doch blieb er mit seinem Antrag in der Minorität. ( Fortsetzung folgt. ) Zu Esel und zu Fuß. ( Fortsetzung. ) Da rang sich plötzlich ein völlig unnachahmlicher Laut Tonino's durch die Staubwolke vor mir, und augenblicklich rannte miccio, wie in Todes- angst, wenigstens zehn Schritte weit vorwärts. Auf neues Geschrei neues Vorwärtsstürzen. Als aber auch dieser Zuruf nichts mehr fruchtete, nahete sich funkelnden Auges Tonino selbst, und kaum hatte er, wie mir schien, nur den Sattel meines Thieres berührt, als dasselbe einen fürchterlichen Satz machte und dann, wie vom bösen Geist getrieben, dahinjagte. Die öftere Wiederholung dieses mir wunderbar erscheinenden Experi- ments ließ mich endlich die Finger des Zauberkünstlers etwas genauer ver- folgen, und ich entdeckte dann, daß mein armes Vieh unter dem Sattel ein zolltiefes Loch hatte, in welches der Bube, um seinem Pflegebefohlenen Lust zur Arbeit zu machen, den Finger zu bohren pflegte. Diese Ent- deckung machen und dem jungen Teufel gegen alle meine liberalen Grundsätze einen gesunden deutschen Hieb über den Rücken ziehen, war Eins. Das Bürschchen konnte aber durchaus nicht begreifen, was es Un- rechtes gethan haben sollte. Er starrte mich von nun an in einem fort an und schüttelte das zottige Haupt, als ob ich ein wahres Musterbild von einem Narren sei, und wenn Mietz jetzt einmal wieder stehen blieb und ich mich mit tausenderlei Künsten meiner Art abquälte, den Starrköpfigen vorwärts zu bringen, schnitt sein sinnreicher Führer stets, aber immer auf vier Stocklängen Entfernung, die höhnischsten Grimassen und wollte sich todtlachen über den verrückten Jnglese. Jn allerhand Gedanken über den Gemüthszustand eines doch mit so viel geistlichen Lehrern gesegneten Volkes, das ja auch, wie ich ebenfalls einmal zu beobachten Gelegenheit hatte, lebendige Mäuse in Spiritus taucht, diesen anzündet und dann jubelnd, aber immer graziös, um das in Todesangst kreisende Opfer her kauert — also in Gedanken über dieses Volk verloren, mußte ich meinem Eselein plötzlich selbst Halt gebieten, weil eben aus einem Nebengäßchen ein Leichenzug in die von uns verfolgte Straße einbog. Der Sarg, sehr schmal und niedrig, wurde begleitet und getragen von einer jener verkappten Brüderschaften, die einen so gespensterhaften Anblick gewähren. Jhre Kappe, die Fortsetzung einer Art Mönchskutte, hüllt Kopf und Gesicht vollständig ein und hat nur zwei kleine Oeffnungen für die Augen, so daß das Kostüm für einen Knecht Ruprecht außerordentlich passend sein würde. Von Rom her gewöhnt, den Todten die größte Ehr- furcht bezeigen zu sehen, zog ich meinen Hut, machte aber bald die Be- merkung, daß der Neapolitaner auch in dieser Beziehung gänzlich von dem viel ernsteren und edleren Römer verschieden sei. Was die Ursache war, weiß ich nicht, ich sah nur, daß einer der vermummten Träger plötzlich seinen Vordermann mit geballter Faust in den Nacken schlug; dieser gab un- verweilt den Schlag zurück, und in einem Moment hatte sich die wü- thendste Prügelei unter den Todtenträgern entwickelt. Der Sarg flog auf die Erde, wurde wieder emporgerissen, flog von Neuem zu Boden, man hörte den Kopf des Todten an den Sargdeckel schlagen; die eben noch so feierlich dahinschreitenden Spukgestalten wälzten sich über und unter ein- ander im Staub, das entsetzlichste Fluchen und Brüllen begleitete die dra- matische Handlung, und der Geistliche stand so gleichgültig daneben, und das Volk schritt so ruhig vorüber, als ob sich die Geschichte ganz von selbst verstehe. Jch wüßte in der That nicht, was mich jemals mehr empört hätte, als dieser Anblick. O wie gern wäre ich, meine Grundsätze aufs Neue vergessend, der Riese Briareus gewesen, um mit hundert Händen zugleich der ganzen vermummten Rotte, dem Herrn Geistlichen obenan, meine Gefühle zu erkennen zu geben! Das ist das bigotte, in Glaubenstüchtig- keit und Ketzerhaß selbst dem besten Tyroler nicht nachstehende Volk von Neapel! Jn Rom, dem in religiöser Hinsicht ganz unstreitig viel frei- sinnigeren Rom, wäre eine solche Scene geradezu unmöglich gewesen. Das Volk würde eine solche, dem Todten angethane Schmach, möchte er nun ein mortone ( großer Todter, der viel Heuler bezahlt ) oder ein mortaccio ( erbärmlicher Todter, den wenig oder keine Heuler begleiten ) gewesen sein, ganz sicherlich nicht geduldet haben. Es wurde mir immer klarer, daß der Römer mit seinem Hasse und seiner Verachtung gegen den Charakter der Neapolitaner so Unrecht eigentlich nicht hat. Endlich, immer bergauf kletternd, hatten wir das Chaos der schmutzigen Gassen hinter uns. Der Weg, ziemlich uninteressant, führte uns von nun an bald durch hohe Gartenmauern, bald durch freieres Feld dahin, während der Esel und die schon sinkende Sonne noch einmal alle Kräfte anstrengten, um den letzten Rest männlicher Haltung aus mir herauszuquälen. O wie beneidete ich meine Frau, die wohl eine Viertelstunde früher als ich mit ihrem zerlumpten Führer in dem schönen Walde ankam, der die Kuppe des Berges, auf welchem Camaldoli liegt, umschließt. Nie war mir ein Laub- dach willkommener, und obgleich es eine Zeit war, in der man, nach den Ver- sicherungen der Neapolitaner, hinter jedem Busch, auch in der nächsten Nähe der Stadt, wenigstens ein Dutzend auf Menschenohren versessene Briganten erwarten konnte, so begrüßte ich doch die immergrünen Eichen, die Buchen und Kastanien als wahre Retter aus der Noth. Der Weg wurde immer steiler, felsiger, an manchen Stellen sehr zerklüftet. Jch wollte absteigen, aber Tonino's Ehre schien dadurch im höchsten Grade verletzt. „Ein Esel fällt nie, Signore!“ rief er aus, als wir eben eine besonders abschüssige Stelle passirten. „Ein Esel ist viel sicherer auf den Füßen, als ein Mensch; ein Esel —“ Krach! war das Unglück da, und Mensch und Esel, Regenschirm und Reisebuch flogen, die Lebenden mit dem Kopf vornweg, den Abhang hinunter auf das spitze Gestein. Meine Frau stieß einen lauten Schrei aus, als sie plötzlich sechs Beine, darunter die ihres Eheherrn, in der Luft telegraphiren sah; der gottlose Tonino aber stand höchst beruhigt oben und grunzte nur immer: „ Oibo, Signore! Oibo!“ Es wäre recht hübsch gewesen, wenn ich dort oben mit einem zer- brochenen Gliede gelegen hätte; doch fand ich, nachdem ich mich aufgerafft, mein ganzes Gebein in gehöriger Ordnung. Die Ursache des Sturzes war bald entdeckt. Miccio erwies sich nämlich auf beiden Augen total blind. Auch der Esel meiner Frau wurde jetzt als einäugig erkannt. Darüber entspann sich dann ein äußerst lebhafter Dialog zwischen Tonino und mir, der damit endigte, daß ich, trotz der heiligsten Schwüre Tonino's, ein Esel brauche gar keine Augen, er fände seinen Weg auch in der dunkelsten Nacht, dem sich jetzt aber in acht Stocklängen Entfernung haltenden Schlingel erklärte, wir würden nicht einen Pfennig bezahlen, er solle sich mit seinem verwünschten Viehzeug nach Neapel zurückscheeren; auch keuch- ten wir nun in der That unsern Weg zu Fuß weiter. Tonino aber nahm ruhig seine beiden, mit acht Füßen, aber nur einem Auge versehenen Lieb- linge an die Hand, folgte uns in gemessener Entfernung, schälte sich eine Apfelsine nach der andern und kreischte nur manchmal eine Aufforderung an uns, wieder aufzusteigen, durch den schattigen Wald. Von Schweiß triefend, ich mit heftigen Schmerzen am Ellenbogen und Knie, kamen wir endlich todtmüde auf dem Gipfel des Berges und auf dem durch Wald und Gebüsch vor jeder Aussicht _________bewabrten Platz vor dem Klosterthor an. Jch warf mich sogleich unter die erste beste Pinie, schickte einige Bettler und den Custode, die sofort über uns herfielen, zu allen Teufeln, kühlte, so gut es ging, meine Wunden und pfiff dabei so seelen- voll, als ich vermochte: „Kennst du das Land, wo die Citronen blühn? Dahin, dahin“ u. s. w. Jch wäre auch nicht so bald wieder emporzubrin- gen gewesen, wenn uns nicht ein weißkuttiger, sehr freundlicher, auch etwas weniger schmutziger Mönch bedeutet hätte, daß wir den schönsten Augen- blick versäumen würden, wenn wir nicht sofort zum Pavillon eilten. So raffte ich mich denn empor, und wir folgten, ich hinkend, brummend, mit einem Gesicht, welches Bädeker recht wohl als abschreckendes Beispiel aufs Titelblatt setzen könnte, dem Custode, der uns auf tiefschattigem Fußpfade durch einen dichten Kastanienhain um den Berg herumführte. Am Ende des Pfades öffnete er ein verschlossenes Gitter, und wir traten nun aus dem bis jetzt jede Aussicht gänzlich verhindernden Walde plötzlich in den kleinen, auf einem Felsenvorsprunge erbauten, nach allen Richtungen offenen, welt- berühmten Pavillon ein. Wenn plötzlich ein Blitzstrahl vor Jemandem niederfährt, wenn ein Kind, das noch nie ein Theater geschaut, den Vorhang sich heben und plötzlich eine, Alles, was seine Phantasie hat erschaffen können, übertreffende Feen= und Elfenscene vor sich sieht, so kann es nicht stärker zusammenbeben, als ich bei dem Anblick erbebte, der sich jetzt vor unseren Augen aufthat. Jch stieß, wie es wohl schon Tausende und aber Tausende vor mir gethan haben, einen lauten Schrei aus, und erinnere mich noch ganz deutlich, wie ich an allen Gliedern zitterte. ( Schluß folgt. )

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt07_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt07_1868/5
Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 7. Berlin, 16. Februar 1868, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt07_1868/5>, abgerufen am 30.04.2024.