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Sonntags-Blatt. Nr. 27. Berlin, 5. Juli 1868.

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Ein Vers.
Von James Fürstenberg.
[Beginn Spaltensatz]

Es war ein prächtiger, lachender Maisonntag gewesen, den wir,
mein Vetter und ich, auf dem Gute unseres gemeinschaftlichen
Freundes Alfred zugebracht hatten. Lachend und heiter, wie die
Natur rings um uns her, war es auch in seinem Hause, und
die Sonne, die alle die Lust und all' den Frühling in das glückliche
Daheim hineinlächelte, war Melitta, sein jugendliches Weibchen,
deren persönliche Bekanntschaft wir erst an diesem Tage gemacht
hatten.

Herzlich aufgenommen, freundlich und liebenswürdig bewirthet,
hatten wir den Tag in gemüthlicher, stellenweise ausgelassener Heiter-
keit verbracht, und wohl selten ist einer Gesellschaft der Abend und
mit ihm die Mahnung zu Trennung und Aufbruch ungelegener ge-
kommen, als unserem kleinen Kreise. Jndessen, es mußte geschehen.
Nach einem gemeinsamen Spaziergang über Feld und Wiesen ver-
abschiedeten wir uns von unserer reizenden Wirthin und schlugen den
Rückweg durch den das Gut begrenzenden Fichtenwald ein, durch
welchen uns Alfred noch ein gut Stück Weges freundliches Geleit
gab. Arm in Arm schlenderte das Freundeskleeblatt den frischen
Waldrain entlang. Unwillkürlich wandte sich unser Gespräch sehr
bald auf Alfreds Gattin, und es war nur der wahrhafte Ausdruck
unserer Empfindungen, wenn wir, mein Vetter und ich, in dithyram-
bischer Anerkennung ihrer Reize und Vorzüge uns überboten.

"Wie mich das freut", sagte Alfred, "Melitta's Lob gerade aus
Eurem, meiner liebsten und trautesten Freunde, Munde zu hören!
Ja, sie ist reizend, und mein Glück ist unaussprechlich. Aber leicht
ist mir der Besitz desselben nicht geworden, das könnt Jhr mir glau-
ben. Nach jahrelanger Trennung ist es mir bei unserem ersten
Wiedersehen ein wahres Herzensbedürfniß, Euch, meine Freunde,
diesen kleinen Roman unserer Herzen anzuvertrauen. Höret also!

Es mag jetzt etwa vier Jahre her sein -- ich war damals ungefähr
achtundzwanzig Jahre alt -- da hatte sich in der Mitte des Sommers
auf dem großen Landgut meines guten Onkels Berger eine ziemlich
zahlreiche Gesellschaft eingefunden.

Lauter nahe Verwandte und intime Freunde, amüsirten wir uns
ganz herrlich; wir machten, Männlein wie Weiblein, die größten
Tollheiten, so daß unser gutherziger Wirth manchmal den Kopf
schüttelte und meinte: "Kinderchen, Kinderchen, Jhr werdet mir noch
ganz wild!" Daran kehrten wir uns indessen wenig, so lange der
Himmel uns mit schönem Wetter beistand. Aber eines Abends, wir
hatten gerade eine nächtliche Wasserpartie, auf welche wir uns sehr
freuten, verabredet, da verfinsterte sich der Himmel, er öffnete seine
Schleusen, und es regnete nicht, nein, es goß, als sollte eine zweite
Auflage der Sündflut erscheinen. Das machte uns einen argen
Strich durch die Rechnung, und dem Himmel grollend zogen wir
uns in die Zimmer zurück.

Auch beim Abendtisch waren wir noch einigermaßen verstimmt,
und es ging stiller her als sonst.

Onkel Berger, den diese Stille unangenehmer berührte als unser
sonstiges Lärmen, an das er sich wahrscheinlich schon gewöhnt hatte, hatte
schon mehrere Male versucht, dieselbe durch lustige Einfälle und Fragen zu
unterbrechen; allein vergebens. Es war einmal keine Stimmung in
die Gesellschaft zu bringen. Da bemerkte er endlich nach einigem
Nachsinnen und nachdem er uns der Reihe nach lächelnd angesehen
hatte:

"Jch habe vor Kurzem verschiedene irische Lieder gelesen, und eines
davon hat mir ganz besonders gut gefallen, nämlich das von unserem
deutschen Schriftsteller Ruppius so hübsch übersetzte:

"Trifft ein Jemand einen Jemand
Jn dem Korn allein,
Küßt der Jemand dann den Jemand,
Muß der Jemand schrei'n?"

Und nun möchte ich gar zu gern wissen, ob mir Jemand von Euch
die Frage, die in diesem kleinen Vers enthalten ist, beantworten kann."

Jetzt war das Eis gebrochen; es begannen lebhafte Debatten über
diese Frage, und Damen und Herren geriethen mitunter nicht ganz
parlamentarisch an einander.

Die Letzteren meinten nämlich, das Schreien sei Unsinn, da es
nichts nütze, wenn der Kuß einmal gegeben sei; aber geschrieen würde
darum doch von den Damen.

Die Ersteren wiesen diese Behauptung zurück und stellten einstim-
mig dagegen auf, daß Keine von ihnen, wenn ihr je ein solches Unglück
-- denn als ein Unglück sähen sie das Rauben eines Kusses an --
zustieße, schreien, sondern Jede sich augenblicklich an dem betreffenden
Räuber empfindlich rächen würde.

"Das möchten wir doch einmal sehen!" meinte der Fragesteller.
"Jch schlage vor, die obige Drohung unserer Damen als eine gegen
[Spaltenumbruch] uns gerichtete Kriegserklärung aufzunehmen. Läßt sich also eine von
den Damen allein von einem unserer Herren treffen, und schreit diese
verehrte Dame dann, wenn ihr nolens volens das Unglück passirt,
daß ihr der betreffende Herr einen Kuß raubt, so soll sie nach Fest-
stellung der Thatsache gehalten sein, ihm einen Wunsch zu erfüllen.
Nun, wird dieser mein Antrag angenommen?"

Dies geschah, trotz dem Protest der Damen, welche hoch und
theuer schwuren, sie würden sich jetzt nie mehr allein hinauswagen.

Die Damen hielten ihren Schwur und ließen sich, so lange der
Besuch bei Onkel Berger dauerte, nicht mehr einzeln betreffen, so daß
wir Herren, obgleich wir tüchtig vigilirten, keine Gelegenheit fanden,
sie auf die Probe zu stellen.

Später wurde dieser Scherz, der ja nur für die Dauer unseres
Zusammenseins bestimmt war, wohl von allen Anwesenden vergessen
-- außer von Einem, und dieser Eine -- war ich.

Unter den Damen befand sich auch meine Cousine Melitta, die
es sich vorgenommen zu haben schien, mich zu ärgern und zu necken,
so daß ich mich schon oft ganz ordentlich mit ihr gezankt und ihr den
Namen "Satanella" gegeben hatte. Diese junge Dame beschuldigte
mich, ich sollte der eigentliche Urheber jenes verfänglichen Antrages
sein, und trotz meines ernstlichen Leugnens wurde ich von ihr für die
ganze Dauer unseres Besuchs in den Bann gethan.

Nach Beendigung des Besuches ging ich, wie Jhr wißt, auf Reisen,
um mich nach vollbrachten Studien erst noch etwas in der Welt um-
zusehen, ehe ich das Gut meines früh verstorbenen Vaters übernähme.
Jch war in Jtalien, Frankreich, Spanien u. s. w., genug, ich trieb
mich während dreier Jahre in der Welt umher.

Mit Empfehlungsbriefen an Deutsche im Auslande ausgerüstet,
wurde es mir nicht schwer, zu den gebildetsten Kreisen der Gesellschaft
Zutritt zu erhalten. Jn diesen Zirkeln lernte ich manche schöne und
geistreiche Frau kennen, von der ich nicht leugnen kann, daß sie mich
augenblicklich bezauberte; aber dieser Zauber währte nie länger, als
mein Aufenthalt an dem Ort, wo ich ihn erfahren hatte. Jch dachte
wohl noch oft mit Vergnügen an die angenehmen Abende, welche ich
in Gesellschaft dieser oder jener Dame verlebt, niemals aber beschlich
mich beim Abschied ein so schmerzlich süßes Gefühl, wie mich damals
überkam, als ich bei meiner Abreise von Melitta Abschied nahm.
Oft stellte ich Vergleiche zwischen diesen Damen und meiner " Sata-
nella " an; sie fielen jedoch immer zu Gunsten der Letzteren aus, so
daß ich mich endlich wieder recht von Herzen nach Hause sehnte und
ernstlich an meine Rückkehr zu denken anfing.

Jch wurde um so mehr in diesem Vorsatz bestärkt, als der letzte
Brief meines Onkels eine Strafpredigt über meine lange Abwesen-
heit enthielt. Jn jedem seiner früheren Briefe hatte ich eine Zeile
oder doch wenigstens einen freundlichen Gruß von Melitta zu finden
gehofft, allein immer vergeblich. Nur in dem letzten Strafbrief des
Onkels fand ich unter der Unterschrift desselben ein großes " Vidi "
und darunter: "Melitta".

Der Zauber, den diese Unterschrift auf mich ausübte, bestimmte
mich zur Beschleunigung meiner Heimreise.

Endlich zurückgekehrt, fand ich bei meinem Onkel die herzlichste
Aufnahme, freilich verbrämt mit etlichen Strafsermonen über mein
langes Fortbleiben und die Spärlichkeit meiner Briefe -- Vorwürfe,
die ebenso gerecht wie andererseits doch nur der Ausdruck eines herz-
lichen Wohlwollens und der aufrichtigen Freude über meine endlich
erfolgte Rückkehr waren.

Viel weniger herzlich, ja von einer fast demonstrativen Kälte an-
geweht, war mein Empfang von Seiten Melitta's. Sie begrüßte
mich mit ausgesuchter Höflichkeit, nicht wie ihren " cher cousin "
und Jugendgespielen, sondern wie eine ihr völlig fremde Person, deren
nähere Bekanntschaft ihr durchaus nicht besonders wünschenswerth
erschien.

Jch hatte allerdings sehr unrecht gegen sie gehandelt, da ich wäh-
rend meiner Abwesenheit ihr selbst niemals geschrieben, sondern sie nur
immer in den Briefen an ihren Vater hatte grüßen lassen; Jhr müßt
nämlich wissen, daß sie damals, als ich meine Reise antrat, den Bann
gegen mich nicht aufhob und wir in Folge dessen etwas kühl ge-
schieden waren. Dies hatte mir später manchmal aufrichtig leid ge-
than; ich hatte auch in einem der ersten Briefe den Onkel gebeten,
ein gutes Wort für mich bei Melitta einzulegen. Er hatte mir
jedoch höchst lakonisch geantwortet:

"Was Deine Affaire mit Melitta anbetrifft, so kann ich Dir nur
mittheilen, daß sie sich zu nichts bewegen läßt".

Was sollte ich danach wohl beginnen? Jch leugne nicht, daß ich
ihr direkt meine Bitte hätte aussprechen können, aber -- und dieses
Aber verdarb eben Alles -- ich konnte es um so weniger übers Herz
[Ende Spaltensatz]


Ein Vers.
Von James Fürstenberg.
[Beginn Spaltensatz]

Es war ein prächtiger, lachender Maisonntag gewesen, den wir,
mein Vetter und ich, auf dem Gute unseres gemeinschaftlichen
Freundes Alfred zugebracht hatten. Lachend und heiter, wie die
Natur rings um uns her, war es auch in seinem Hause, und
die Sonne, die alle die Lust und all' den Frühling in das glückliche
Daheim hineinlächelte, war Melitta, sein jugendliches Weibchen,
deren persönliche Bekanntschaft wir erst an diesem Tage gemacht
hatten.

Herzlich aufgenommen, freundlich und liebenswürdig bewirthet,
hatten wir den Tag in gemüthlicher, stellenweise ausgelassener Heiter-
keit verbracht, und wohl selten ist einer Gesellschaft der Abend und
mit ihm die Mahnung zu Trennung und Aufbruch ungelegener ge-
kommen, als unserem kleinen Kreise. Jndessen, es mußte geschehen.
Nach einem gemeinsamen Spaziergang über Feld und Wiesen ver-
abschiedeten wir uns von unserer reizenden Wirthin und schlugen den
Rückweg durch den das Gut begrenzenden Fichtenwald ein, durch
welchen uns Alfred noch ein gut Stück Weges freundliches Geleit
gab. Arm in Arm schlenderte das Freundeskleeblatt den frischen
Waldrain entlang. Unwillkürlich wandte sich unser Gespräch sehr
bald auf Alfreds Gattin, und es war nur der wahrhafte Ausdruck
unserer Empfindungen, wenn wir, mein Vetter und ich, in dithyram-
bischer Anerkennung ihrer Reize und Vorzüge uns überboten.

„Wie mich das freut“, sagte Alfred, „Melitta's Lob gerade aus
Eurem, meiner liebsten und trautesten Freunde, Munde zu hören!
Ja, sie ist reizend, und mein Glück ist unaussprechlich. Aber leicht
ist mir der Besitz desselben nicht geworden, das könnt Jhr mir glau-
ben. Nach jahrelanger Trennung ist es mir bei unserem ersten
Wiedersehen ein wahres Herzensbedürfniß, Euch, meine Freunde,
diesen kleinen Roman unserer Herzen anzuvertrauen. Höret also!

Es mag jetzt etwa vier Jahre her sein — ich war damals ungefähr
achtundzwanzig Jahre alt — da hatte sich in der Mitte des Sommers
auf dem großen Landgut meines guten Onkels Berger eine ziemlich
zahlreiche Gesellschaft eingefunden.

Lauter nahe Verwandte und intime Freunde, amüsirten wir uns
ganz herrlich; wir machten, Männlein wie Weiblein, die größten
Tollheiten, so daß unser gutherziger Wirth manchmal den Kopf
schüttelte und meinte: „Kinderchen, Kinderchen, Jhr werdet mir noch
ganz wild!“ Daran kehrten wir uns indessen wenig, so lange der
Himmel uns mit schönem Wetter beistand. Aber eines Abends, wir
hatten gerade eine nächtliche Wasserpartie, auf welche wir uns sehr
freuten, verabredet, da verfinsterte sich der Himmel, er öffnete seine
Schleusen, und es regnete nicht, nein, es goß, als sollte eine zweite
Auflage der Sündflut erscheinen. Das machte uns einen argen
Strich durch die Rechnung, und dem Himmel grollend zogen wir
uns in die Zimmer zurück.

Auch beim Abendtisch waren wir noch einigermaßen verstimmt,
und es ging stiller her als sonst.

Onkel Berger, den diese Stille unangenehmer berührte als unser
sonstiges Lärmen, an das er sich wahrscheinlich schon gewöhnt hatte, hatte
schon mehrere Male versucht, dieselbe durch lustige Einfälle und Fragen zu
unterbrechen; allein vergebens. Es war einmal keine Stimmung in
die Gesellschaft zu bringen. Da bemerkte er endlich nach einigem
Nachsinnen und nachdem er uns der Reihe nach lächelnd angesehen
hatte:

„Jch habe vor Kurzem verschiedene irische Lieder gelesen, und eines
davon hat mir ganz besonders gut gefallen, nämlich das von unserem
deutschen Schriftsteller Ruppius so hübsch übersetzte:

„Trifft ein Jemand einen Jemand
Jn dem Korn allein,
Küßt der Jemand dann den Jemand,
Muß der Jemand schrei'n?“

Und nun möchte ich gar zu gern wissen, ob mir Jemand von Euch
die Frage, die in diesem kleinen Vers enthalten ist, beantworten kann.“

Jetzt war das Eis gebrochen; es begannen lebhafte Debatten über
diese Frage, und Damen und Herren geriethen mitunter nicht ganz
parlamentarisch an einander.

Die Letzteren meinten nämlich, das Schreien sei Unsinn, da es
nichts nütze, wenn der Kuß einmal gegeben sei; aber geschrieen würde
darum doch von den Damen.

Die Ersteren wiesen diese Behauptung zurück und stellten einstim-
mig dagegen auf, daß Keine von ihnen, wenn ihr je ein solches Unglück
— denn als ein Unglück sähen sie das Rauben eines Kusses an —
zustieße, schreien, sondern Jede sich augenblicklich an dem betreffenden
Räuber empfindlich rächen würde.

„Das möchten wir doch einmal sehen!“ meinte der Fragesteller.
„Jch schlage vor, die obige Drohung unserer Damen als eine gegen
[Spaltenumbruch] uns gerichtete Kriegserklärung aufzunehmen. Läßt sich also eine von
den Damen allein von einem unserer Herren treffen, und schreit diese
verehrte Dame dann, wenn ihr nolens volens das Unglück passirt,
daß ihr der betreffende Herr einen Kuß raubt, so soll sie nach Fest-
stellung der Thatsache gehalten sein, ihm einen Wunsch zu erfüllen.
Nun, wird dieser mein Antrag angenommen?“

Dies geschah, trotz dem Protest der Damen, welche hoch und
theuer schwuren, sie würden sich jetzt nie mehr allein hinauswagen.

Die Damen hielten ihren Schwur und ließen sich, so lange der
Besuch bei Onkel Berger dauerte, nicht mehr einzeln betreffen, so daß
wir Herren, obgleich wir tüchtig vigilirten, keine Gelegenheit fanden,
sie auf die Probe zu stellen.

Später wurde dieser Scherz, der ja nur für die Dauer unseres
Zusammenseins bestimmt war, wohl von allen Anwesenden vergessen
— außer von Einem, und dieser Eine — war ich.

Unter den Damen befand sich auch meine Cousine Melitta, die
es sich vorgenommen zu haben schien, mich zu ärgern und zu necken,
so daß ich mich schon oft ganz ordentlich mit ihr gezankt und ihr den
Namen „Satanella“ gegeben hatte. Diese junge Dame beschuldigte
mich, ich sollte der eigentliche Urheber jenes verfänglichen Antrages
sein, und trotz meines ernstlichen Leugnens wurde ich von ihr für die
ganze Dauer unseres Besuchs in den Bann gethan.

Nach Beendigung des Besuches ging ich, wie Jhr wißt, auf Reisen,
um mich nach vollbrachten Studien erst noch etwas in der Welt um-
zusehen, ehe ich das Gut meines früh verstorbenen Vaters übernähme.
Jch war in Jtalien, Frankreich, Spanien u. s. w., genug, ich trieb
mich während dreier Jahre in der Welt umher.

Mit Empfehlungsbriefen an Deutsche im Auslande ausgerüstet,
wurde es mir nicht schwer, zu den gebildetsten Kreisen der Gesellschaft
Zutritt zu erhalten. Jn diesen Zirkeln lernte ich manche schöne und
geistreiche Frau kennen, von der ich nicht leugnen kann, daß sie mich
augenblicklich bezauberte; aber dieser Zauber währte nie länger, als
mein Aufenthalt an dem Ort, wo ich ihn erfahren hatte. Jch dachte
wohl noch oft mit Vergnügen an die angenehmen Abende, welche ich
in Gesellschaft dieser oder jener Dame verlebt, niemals aber beschlich
mich beim Abschied ein so schmerzlich süßes Gefühl, wie mich damals
überkam, als ich bei meiner Abreise von Melitta Abschied nahm.
Oft stellte ich Vergleiche zwischen diesen Damen und meiner „ Sata-
nella “ an; sie fielen jedoch immer zu Gunsten der Letzteren aus, so
daß ich mich endlich wieder recht von Herzen nach Hause sehnte und
ernstlich an meine Rückkehr zu denken anfing.

Jch wurde um so mehr in diesem Vorsatz bestärkt, als der letzte
Brief meines Onkels eine Strafpredigt über meine lange Abwesen-
heit enthielt. Jn jedem seiner früheren Briefe hatte ich eine Zeile
oder doch wenigstens einen freundlichen Gruß von Melitta zu finden
gehofft, allein immer vergeblich. Nur in dem letzten Strafbrief des
Onkels fand ich unter der Unterschrift desselben ein großes „ Vidi
und darunter: „Melitta“.

Der Zauber, den diese Unterschrift auf mich ausübte, bestimmte
mich zur Beschleunigung meiner Heimreise.

Endlich zurückgekehrt, fand ich bei meinem Onkel die herzlichste
Aufnahme, freilich verbrämt mit etlichen Strafsermonen über mein
langes Fortbleiben und die Spärlichkeit meiner Briefe — Vorwürfe,
die ebenso gerecht wie andererseits doch nur der Ausdruck eines herz-
lichen Wohlwollens und der aufrichtigen Freude über meine endlich
erfolgte Rückkehr waren.

Viel weniger herzlich, ja von einer fast demonstrativen Kälte an-
geweht, war mein Empfang von Seiten Melitta's. Sie begrüßte
mich mit ausgesuchter Höflichkeit, nicht wie ihren „ cher cousin
und Jugendgespielen, sondern wie eine ihr völlig fremde Person, deren
nähere Bekanntschaft ihr durchaus nicht besonders wünschenswerth
erschien.

Jch hatte allerdings sehr unrecht gegen sie gehandelt, da ich wäh-
rend meiner Abwesenheit ihr selbst niemals geschrieben, sondern sie nur
immer in den Briefen an ihren Vater hatte grüßen lassen; Jhr müßt
nämlich wissen, daß sie damals, als ich meine Reise antrat, den Bann
gegen mich nicht aufhob und wir in Folge dessen etwas kühl ge-
schieden waren. Dies hatte mir später manchmal aufrichtig leid ge-
than; ich hatte auch in einem der ersten Briefe den Onkel gebeten,
ein gutes Wort für mich bei Melitta einzulegen. Er hatte mir
jedoch höchst lakonisch geantwortet:

„Was Deine Affaire mit Melitta anbetrifft, so kann ich Dir nur
mittheilen, daß sie sich zu nichts bewegen läßt“.

Was sollte ich danach wohl beginnen? Jch leugne nicht, daß ich
ihr direkt meine Bitte hätte aussprechen können, aber — und dieses
Aber verdarb eben Alles — ich konnte es um so weniger übers Herz
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[212/0004] 212 Ein Vers. Von James Fürstenberg. Es war ein prächtiger, lachender Maisonntag gewesen, den wir, mein Vetter und ich, auf dem Gute unseres gemeinschaftlichen Freundes Alfred zugebracht hatten. Lachend und heiter, wie die Natur rings um uns her, war es auch in seinem Hause, und die Sonne, die alle die Lust und all' den Frühling in das glückliche Daheim hineinlächelte, war Melitta, sein jugendliches Weibchen, deren persönliche Bekanntschaft wir erst an diesem Tage gemacht hatten. Herzlich aufgenommen, freundlich und liebenswürdig bewirthet, hatten wir den Tag in gemüthlicher, stellenweise ausgelassener Heiter- keit verbracht, und wohl selten ist einer Gesellschaft der Abend und mit ihm die Mahnung zu Trennung und Aufbruch ungelegener ge- kommen, als unserem kleinen Kreise. Jndessen, es mußte geschehen. Nach einem gemeinsamen Spaziergang über Feld und Wiesen ver- abschiedeten wir uns von unserer reizenden Wirthin und schlugen den Rückweg durch den das Gut begrenzenden Fichtenwald ein, durch welchen uns Alfred noch ein gut Stück Weges freundliches Geleit gab. Arm in Arm schlenderte das Freundeskleeblatt den frischen Waldrain entlang. Unwillkürlich wandte sich unser Gespräch sehr bald auf Alfreds Gattin, und es war nur der wahrhafte Ausdruck unserer Empfindungen, wenn wir, mein Vetter und ich, in dithyram- bischer Anerkennung ihrer Reize und Vorzüge uns überboten. „Wie mich das freut“, sagte Alfred, „Melitta's Lob gerade aus Eurem, meiner liebsten und trautesten Freunde, Munde zu hören! Ja, sie ist reizend, und mein Glück ist unaussprechlich. Aber leicht ist mir der Besitz desselben nicht geworden, das könnt Jhr mir glau- ben. Nach jahrelanger Trennung ist es mir bei unserem ersten Wiedersehen ein wahres Herzensbedürfniß, Euch, meine Freunde, diesen kleinen Roman unserer Herzen anzuvertrauen. Höret also! Es mag jetzt etwa vier Jahre her sein — ich war damals ungefähr achtundzwanzig Jahre alt — da hatte sich in der Mitte des Sommers auf dem großen Landgut meines guten Onkels Berger eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft eingefunden. Lauter nahe Verwandte und intime Freunde, amüsirten wir uns ganz herrlich; wir machten, Männlein wie Weiblein, die größten Tollheiten, so daß unser gutherziger Wirth manchmal den Kopf schüttelte und meinte: „Kinderchen, Kinderchen, Jhr werdet mir noch ganz wild!“ Daran kehrten wir uns indessen wenig, so lange der Himmel uns mit schönem Wetter beistand. Aber eines Abends, wir hatten gerade eine nächtliche Wasserpartie, auf welche wir uns sehr freuten, verabredet, da verfinsterte sich der Himmel, er öffnete seine Schleusen, und es regnete nicht, nein, es goß, als sollte eine zweite Auflage der Sündflut erscheinen. Das machte uns einen argen Strich durch die Rechnung, und dem Himmel grollend zogen wir uns in die Zimmer zurück. Auch beim Abendtisch waren wir noch einigermaßen verstimmt, und es ging stiller her als sonst. Onkel Berger, den diese Stille unangenehmer berührte als unser sonstiges Lärmen, an das er sich wahrscheinlich schon gewöhnt hatte, hatte schon mehrere Male versucht, dieselbe durch lustige Einfälle und Fragen zu unterbrechen; allein vergebens. Es war einmal keine Stimmung in die Gesellschaft zu bringen. Da bemerkte er endlich nach einigem Nachsinnen und nachdem er uns der Reihe nach lächelnd angesehen hatte: „Jch habe vor Kurzem verschiedene irische Lieder gelesen, und eines davon hat mir ganz besonders gut gefallen, nämlich das von unserem deutschen Schriftsteller Ruppius so hübsch übersetzte: „Trifft ein Jemand einen Jemand Jn dem Korn allein, Küßt der Jemand dann den Jemand, Muß der Jemand schrei'n?“ Und nun möchte ich gar zu gern wissen, ob mir Jemand von Euch die Frage, die in diesem kleinen Vers enthalten ist, beantworten kann.“ Jetzt war das Eis gebrochen; es begannen lebhafte Debatten über diese Frage, und Damen und Herren geriethen mitunter nicht ganz parlamentarisch an einander. Die Letzteren meinten nämlich, das Schreien sei Unsinn, da es nichts nütze, wenn der Kuß einmal gegeben sei; aber geschrieen würde darum doch von den Damen. Die Ersteren wiesen diese Behauptung zurück und stellten einstim- mig dagegen auf, daß Keine von ihnen, wenn ihr je ein solches Unglück — denn als ein Unglück sähen sie das Rauben eines Kusses an — zustieße, schreien, sondern Jede sich augenblicklich an dem betreffenden Räuber empfindlich rächen würde. „Das möchten wir doch einmal sehen!“ meinte der Fragesteller. „Jch schlage vor, die obige Drohung unserer Damen als eine gegen uns gerichtete Kriegserklärung aufzunehmen. Läßt sich also eine von den Damen allein von einem unserer Herren treffen, und schreit diese verehrte Dame dann, wenn ihr nolens volens das Unglück passirt, daß ihr der betreffende Herr einen Kuß raubt, so soll sie nach Fest- stellung der Thatsache gehalten sein, ihm einen Wunsch zu erfüllen. Nun, wird dieser mein Antrag angenommen?“ Dies geschah, trotz dem Protest der Damen, welche hoch und theuer schwuren, sie würden sich jetzt nie mehr allein hinauswagen. Die Damen hielten ihren Schwur und ließen sich, so lange der Besuch bei Onkel Berger dauerte, nicht mehr einzeln betreffen, so daß wir Herren, obgleich wir tüchtig vigilirten, keine Gelegenheit fanden, sie auf die Probe zu stellen. Später wurde dieser Scherz, der ja nur für die Dauer unseres Zusammenseins bestimmt war, wohl von allen Anwesenden vergessen — außer von Einem, und dieser Eine — war ich. Unter den Damen befand sich auch meine Cousine Melitta, die es sich vorgenommen zu haben schien, mich zu ärgern und zu necken, so daß ich mich schon oft ganz ordentlich mit ihr gezankt und ihr den Namen „Satanella“ gegeben hatte. Diese junge Dame beschuldigte mich, ich sollte der eigentliche Urheber jenes verfänglichen Antrages sein, und trotz meines ernstlichen Leugnens wurde ich von ihr für die ganze Dauer unseres Besuchs in den Bann gethan. Nach Beendigung des Besuches ging ich, wie Jhr wißt, auf Reisen, um mich nach vollbrachten Studien erst noch etwas in der Welt um- zusehen, ehe ich das Gut meines früh verstorbenen Vaters übernähme. Jch war in Jtalien, Frankreich, Spanien u. s. w., genug, ich trieb mich während dreier Jahre in der Welt umher. Mit Empfehlungsbriefen an Deutsche im Auslande ausgerüstet, wurde es mir nicht schwer, zu den gebildetsten Kreisen der Gesellschaft Zutritt zu erhalten. Jn diesen Zirkeln lernte ich manche schöne und geistreiche Frau kennen, von der ich nicht leugnen kann, daß sie mich augenblicklich bezauberte; aber dieser Zauber währte nie länger, als mein Aufenthalt an dem Ort, wo ich ihn erfahren hatte. Jch dachte wohl noch oft mit Vergnügen an die angenehmen Abende, welche ich in Gesellschaft dieser oder jener Dame verlebt, niemals aber beschlich mich beim Abschied ein so schmerzlich süßes Gefühl, wie mich damals überkam, als ich bei meiner Abreise von Melitta Abschied nahm. Oft stellte ich Vergleiche zwischen diesen Damen und meiner „ Sata- nella “ an; sie fielen jedoch immer zu Gunsten der Letzteren aus, so daß ich mich endlich wieder recht von Herzen nach Hause sehnte und ernstlich an meine Rückkehr zu denken anfing. Jch wurde um so mehr in diesem Vorsatz bestärkt, als der letzte Brief meines Onkels eine Strafpredigt über meine lange Abwesen- heit enthielt. Jn jedem seiner früheren Briefe hatte ich eine Zeile oder doch wenigstens einen freundlichen Gruß von Melitta zu finden gehofft, allein immer vergeblich. Nur in dem letzten Strafbrief des Onkels fand ich unter der Unterschrift desselben ein großes „ Vidi “ und darunter: „Melitta“. Der Zauber, den diese Unterschrift auf mich ausübte, bestimmte mich zur Beschleunigung meiner Heimreise. Endlich zurückgekehrt, fand ich bei meinem Onkel die herzlichste Aufnahme, freilich verbrämt mit etlichen Strafsermonen über mein langes Fortbleiben und die Spärlichkeit meiner Briefe — Vorwürfe, die ebenso gerecht wie andererseits doch nur der Ausdruck eines herz- lichen Wohlwollens und der aufrichtigen Freude über meine endlich erfolgte Rückkehr waren. Viel weniger herzlich, ja von einer fast demonstrativen Kälte an- geweht, war mein Empfang von Seiten Melitta's. Sie begrüßte mich mit ausgesuchter Höflichkeit, nicht wie ihren „ cher cousin “ und Jugendgespielen, sondern wie eine ihr völlig fremde Person, deren nähere Bekanntschaft ihr durchaus nicht besonders wünschenswerth erschien. Jch hatte allerdings sehr unrecht gegen sie gehandelt, da ich wäh- rend meiner Abwesenheit ihr selbst niemals geschrieben, sondern sie nur immer in den Briefen an ihren Vater hatte grüßen lassen; Jhr müßt nämlich wissen, daß sie damals, als ich meine Reise antrat, den Bann gegen mich nicht aufhob und wir in Folge dessen etwas kühl ge- schieden waren. Dies hatte mir später manchmal aufrichtig leid ge- than; ich hatte auch in einem der ersten Briefe den Onkel gebeten, ein gutes Wort für mich bei Melitta einzulegen. Er hatte mir jedoch höchst lakonisch geantwortet: „Was Deine Affaire mit Melitta anbetrifft, so kann ich Dir nur mittheilen, daß sie sich zu nichts bewegen läßt“. Was sollte ich danach wohl beginnen? Jch leugne nicht, daß ich ihr direkt meine Bitte hätte aussprechen können, aber — und dieses Aber verdarb eben Alles — ich konnte es um so weniger übers Herz

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 27. Berlin, 5. Juli 1868, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt27_1868/4>, abgerufen am 18.05.2024.