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Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843.

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sondern sich aus der Volkssitte angeeignet, die, wie
die Volkssprache, als Erzeugniß des Volksgeistes ge-
dacht werden muß. Das Volksthümliche ist ihm der
Schlüssel zum Menschenthümlichen; nur vermittelst ei-
ner Volkssprache und Volkssitte vermag er in sich zur
Selbstständigkeit zu gedeihen und zugleich mit seiner
Volksgemeinde und von dieser aus mit dem Menschen-
geschlechte in lebendige Wechselwirkung zu treten; die
Muttersprache ist seine Sprachmutter, die Muttersitte
seine Sittenmutter. So muß denn auch, auf daß Je-
dermann im Volke für sich Mann werde und fremden
Völkern gegenüber das gesammte Volk als ein Mann
gelte, die Turnsitte eine volksthümliche sein. Uns Deut-
schen geziemt ein deutsches Turnwesen.

Alle und jede Sitte hat ihren Ursprung in der
organischen Natur des Menschen und entwickelt sich
aus dieser mit Nothwendigkeit, während die Unsitte
unorganisch und das Werk der Willkür ist. Die Ge-
berdung des Gemüthes ist eine wesentliche Function
des menschenthümlichen Lebens. Was ein Volk in sei-
nen frühesten Zeiten auf dem Wege naturgemäßer Ent-
wickelung an Sitte gewinnt, vererbt sich, wie jede an-
dere Errungenschaft im Gebiete des Geistes und wie
jeder volkseigene Besitz an Land und Leuten und son-
stigen leiblichen Gütern, von den Vorfahren auf das
spätere Geschlecht. Und dieses übernimmt mit seiner
Erbschaft die Verpflichtung, das Ueberkommene zu er-
halten und fortzubilden. Geschieht dieser Pflicht in
Betreff der Sitte Genüge, so gedeiht das Gemüth des
Volkes allmählig zur Blüthe und Reife, indem die
instinktmäßige Uebung der Sitte zur Kunst wird, in
der kunstmäßigen Uebung aber die Regel zur Anschau-
ung und Geltung und mit der Regel das organisch-
gesetzmäßige der Sitte zum Bewußtsein kommt. Wird
dagegen der überlieferten Sitte diese Pflege nicht zu
Theil, so bleibt sie roh, oder sinkt von einer edleren
Gestalt zu einem Zustande der Verwilderung und Ent-
artung zurück, bis sie endlich, an Gemüth und Ge-

ſondern ſich aus der Volksſitte angeeignet, die, wie
die Volksſprache, als Erzeugniß des Volksgeiſtes ge-
dacht werden muß. Das Volksthümliche iſt ihm der
Schlüſſel zum Menſchenthümlichen; nur vermittelſt ei-
ner Volksſprache und Volksſitte vermag er in ſich zur
Selbſtſtändigkeit zu gedeihen und zugleich mit ſeiner
Volksgemeinde und von dieſer aus mit dem Menſchen-
geſchlechte in lebendige Wechſelwirkung zu treten; die
Mutterſprache iſt ſeine Sprachmutter, die Mutterſitte
ſeine Sittenmutter. So muß denn auch, auf daß Je-
dermann im Volke für ſich Mann werde und fremden
Völkern gegenüber das geſammte Volk als ein Mann
gelte, die Turnſitte eine volksthümliche ſein. Uns Deut-
ſchen geziemt ein deutſches Turnweſen.

Alle und jede Sitte hat ihren Urſprung in der
organiſchen Natur des Menſchen und entwickelt ſich
aus dieſer mit Nothwendigkeit, während die Unſitte
unorganiſch und das Werk der Willkür iſt. Die Ge-
berdung des Gemüthes iſt eine weſentliche Function
des menſchenthümlichen Lebens. Was ein Volk in ſei-
nen früheſten Zeiten auf dem Wege naturgemäßer Ent-
wickelung an Sitte gewinnt, vererbt ſich, wie jede an-
dere Errungenſchaft im Gebiete des Geiſtes und wie
jeder volkseigene Beſitz an Land und Leuten und ſon-
ſtigen leiblichen Gütern, von den Vorfahren auf das
ſpätere Geſchlecht. Und dieſes übernimmt mit ſeiner
Erbſchaft die Verpflichtung, das Ueberkommene zu er-
halten und fortzubilden. Geſchieht dieſer Pflicht in
Betreff der Sitte Genüge, ſo gedeiht das Gemüth des
Volkes allmählig zur Blüthe und Reife, indem die
inſtinktmäßige Uebung der Sitte zur Kunſt wird, in
der kunſtmäßigen Uebung aber die Regel zur Anſchau-
ung und Geltung und mit der Regel das organiſch-
geſetzmäßige der Sitte zum Bewußtſein kommt. Wird
dagegen der überlieferten Sitte dieſe Pflege nicht zu
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[64/0068] ſondern ſich aus der Volksſitte angeeignet, die, wie die Volksſprache, als Erzeugniß des Volksgeiſtes ge- dacht werden muß. Das Volksthümliche iſt ihm der Schlüſſel zum Menſchenthümlichen; nur vermittelſt ei- ner Volksſprache und Volksſitte vermag er in ſich zur Selbſtſtändigkeit zu gedeihen und zugleich mit ſeiner Volksgemeinde und von dieſer aus mit dem Menſchen- geſchlechte in lebendige Wechſelwirkung zu treten; die Mutterſprache iſt ſeine Sprachmutter, die Mutterſitte ſeine Sittenmutter. So muß denn auch, auf daß Je- dermann im Volke für ſich Mann werde und fremden Völkern gegenüber das geſammte Volk als ein Mann gelte, die Turnſitte eine volksthümliche ſein. Uns Deut- ſchen geziemt ein deutſches Turnweſen. Alle und jede Sitte hat ihren Urſprung in der organiſchen Natur des Menſchen und entwickelt ſich aus dieſer mit Nothwendigkeit, während die Unſitte unorganiſch und das Werk der Willkür iſt. Die Ge- berdung des Gemüthes iſt eine weſentliche Function des menſchenthümlichen Lebens. Was ein Volk in ſei- nen früheſten Zeiten auf dem Wege naturgemäßer Ent- wickelung an Sitte gewinnt, vererbt ſich, wie jede an- dere Errungenſchaft im Gebiete des Geiſtes und wie jeder volkseigene Beſitz an Land und Leuten und ſon- ſtigen leiblichen Gütern, von den Vorfahren auf das ſpätere Geſchlecht. Und dieſes übernimmt mit ſeiner Erbſchaft die Verpflichtung, das Ueberkommene zu er- halten und fortzubilden. Geſchieht dieſer Pflicht in Betreff der Sitte Genüge, ſo gedeiht das Gemüth des Volkes allmählig zur Blüthe und Reife, indem die inſtinktmäßige Uebung der Sitte zur Kunſt wird, in der kunſtmäßigen Uebung aber die Regel zur Anſchau- ung und Geltung und mit der Regel das organiſch- geſetzmäßige der Sitte zum Bewußtſein kommt. Wird dagegen der überlieferten Sitte dieſe Pflege nicht zu Theil, ſo bleibt ſie roh, oder ſinkt von einer edleren Geſtalt zu einem Zuſtande der Verwilderung und Ent- artung zurück, bis ſie endlich, an Gemüth und Ge-

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Zitationshilfe: Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_turnkunst01_1843/68>, abgerufen am 27.04.2024.