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Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843.

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berde abgezehrt, einer unvermeidlichen Auflösung un-
terliegt. Eine allgemeine Sittenverderbniß, die alle
Richtungen des Gemüthes und alle Stände und Alter
der bürgerlichen Gesellschaft ergreift und mit welcher
in der Regel auch eine allgemeine Sprachverderbniß
verbunden ist, kann als untrügliches Zeichen eines ver-
wesenden Volksthumes betrachtet werden. Dagegen be-
wirkt der Verfall einer einzelnen Volkssitte zunächst
nur eine Hemmung des organischen Lebens, die sich in
krankhaften und unschönen Volkszuständen kund giebt.
Und eine solche Hemmung läßt sich immer beseitigen,
so lange die Lebenskraft des gefammten Organismus
noch ausreicht, um den besonderen Schaden zu über-
wältigen und den Verlust zu ergänzen. Es kommt
nur darauf an; daß diejenigen welche zu Pflegern des
Volksthums berufen sind, den Uebelstand zu würdigen
und den rechten Grund desselben herauszufinden wissen;
daß sie mit Einsicht und Treue die geeigneten Mittel
wählen und anwenden, um die rohe Sitte zu veredeln,
die verwilderte und entartete durch Zucht herzustellen,
und zum Erfatz für die ausgestorbene aus dem Grund
und Boden des Volksthums eine neue, frische und ge-
sunde Sittensaat zu gewinnen. Verfäumt man aber
die Zeit, in welcher die Rettung einer organischen
Sitte noch möglich ist; will man immer nur flicken
und fristen, wo eine gründliche Reform und eine neue
Geburt nothwendig ist; fehlt der rechte Muth und das
rechte Zeug, eine solche Reform und Wiedergeburt zu
bewirken: dann wird sich der Volksfreund nicht der
bangen Sorge erwehren können, daß mit dem Zurück-
finken und Ausbleiben der einen wesentlichen Lebens-
function die gänzliche Auflösung des organischen Volks-
lebens bereits beginne. Offenbar gilt alles, was hier
von der Natur und dem geschichtlichen Verlauf des
Sittenlebens überhaupt gesagt worden ist, insbesondere
auch von der Turnsitte. Als Geberde der Männlich-
keit ist diese gewiß eine wesentliche Funktion des Volks-
lebens. Um dies anzuerkennen, braucht man sich bloß

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berde abgezehrt, einer unvermeidlichen Auflöſung un-
terliegt. Eine allgemeine Sittenverderbniß, die alle
Richtungen des Gemüthes und alle Stände und Alter
der bürgerlichen Geſellſchaft ergreift und mit welcher
in der Regel auch eine allgemeine Sprachverderbniß
verbunden iſt, kann als untrügliches Zeichen eines ver-
weſenden Volksthumes betrachtet werden. Dagegen be-
wirkt der Verfall einer einzelnen Volksſitte zunächſt
nur eine Hemmung des organiſchen Lebens, die ſich in
krankhaften und unſchönen Volkszuſtänden kund giebt.
Und eine ſolche Hemmung läßt ſich immer beſeitigen,
ſo lange die Lebenskraft des gefammten Organismus
noch ausreicht, um den beſonderen Schaden zu über-
wältigen und den Verluſt zu ergänzen. Es kommt
nur darauf an; daß diejenigen welche zu Pflegern des
Volksthums berufen ſind, den Uebelſtand zu würdigen
und den rechten Grund deſſelben herauszufinden wiſſen;
daß ſie mit Einſicht und Treue die geeigneten Mittel
wählen und anwenden, um die rohe Sitte zu veredeln,
die verwilderte und entartete durch Zucht herzuſtellen,
und zum Erfatz für die ausgeſtorbene aus dem Grund
und Boden des Volksthums eine neue, friſche und ge-
ſunde Sittenſaat zu gewinnen. Verfäumt man aber
die Zeit, in welcher die Rettung einer organiſchen
Sitte noch möglich iſt; will man immer nur flicken
und friſten, wo eine gründliche Reform und eine neue
Geburt nothwendig iſt; fehlt der rechte Muth und das
rechte Zeug, eine ſolche Reform und Wiedergeburt zu
bewirken: dann wird ſich der Volksfreund nicht der
bangen Sorge erwehren können, daß mit dem Zurück-
finken und Ausbleiben der einen weſentlichen Lebens-
function die gänzliche Auflöſung des organiſchen Volks-
lebens bereits beginne. Offenbar gilt alles, was hier
von der Natur und dem geſchichtlichen Verlauf des
Sittenlebens überhaupt geſagt worden iſt, insbeſondere
auch von der Turnſitte. Als Geberde der Männlich-
keit iſt dieſe gewiß eine weſentliche Funktion des Volks-
lebens. Um dies anzuerkennen, braucht man ſich bloß

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[65/0069] berde abgezehrt, einer unvermeidlichen Auflöſung un- terliegt. Eine allgemeine Sittenverderbniß, die alle Richtungen des Gemüthes und alle Stände und Alter der bürgerlichen Geſellſchaft ergreift und mit welcher in der Regel auch eine allgemeine Sprachverderbniß verbunden iſt, kann als untrügliches Zeichen eines ver- weſenden Volksthumes betrachtet werden. Dagegen be- wirkt der Verfall einer einzelnen Volksſitte zunächſt nur eine Hemmung des organiſchen Lebens, die ſich in krankhaften und unſchönen Volkszuſtänden kund giebt. Und eine ſolche Hemmung läßt ſich immer beſeitigen, ſo lange die Lebenskraft des gefammten Organismus noch ausreicht, um den beſonderen Schaden zu über- wältigen und den Verluſt zu ergänzen. Es kommt nur darauf an; daß diejenigen welche zu Pflegern des Volksthums berufen ſind, den Uebelſtand zu würdigen und den rechten Grund deſſelben herauszufinden wiſſen; daß ſie mit Einſicht und Treue die geeigneten Mittel wählen und anwenden, um die rohe Sitte zu veredeln, die verwilderte und entartete durch Zucht herzuſtellen, und zum Erfatz für die ausgeſtorbene aus dem Grund und Boden des Volksthums eine neue, friſche und ge- ſunde Sittenſaat zu gewinnen. Verfäumt man aber die Zeit, in welcher die Rettung einer organiſchen Sitte noch möglich iſt; will man immer nur flicken und friſten, wo eine gründliche Reform und eine neue Geburt nothwendig iſt; fehlt der rechte Muth und das rechte Zeug, eine ſolche Reform und Wiedergeburt zu bewirken: dann wird ſich der Volksfreund nicht der bangen Sorge erwehren können, daß mit dem Zurück- finken und Ausbleiben der einen weſentlichen Lebens- function die gänzliche Auflöſung des organiſchen Volks- lebens bereits beginne. Offenbar gilt alles, was hier von der Natur und dem geſchichtlichen Verlauf des Sittenlebens überhaupt geſagt worden iſt, insbeſondere auch von der Turnſitte. Als Geberde der Männlich- keit iſt dieſe gewiß eine weſentliche Funktion des Volks- lebens. Um dies anzuerkennen, braucht man ſich bloß **

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Zitationshilfe: Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_turnkunst01_1843/69>, abgerufen am 27.04.2024.