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Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843.

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die geschichtliche Thatsache zu vergegenwärtigen, daß
Eroberer, denen es darum zu thun war, ein befestig-
tes Volk gänzlich zu vernichten, diesen Zweck vorzugs-
weise durch gewaltsame Unterdrückung der volksthümli-
chen Turnsitte erreicht haben. Die Pflege und Förde-
rung der Turnsitte ist Menschen- und Bürgerpflicht, ist
eine Volksangelegenheit.

Erwägen wir, was in unserem deutschen Vater-
lande in dieser Angelegenheit bisher geschehen und jetzt
zu thun ist! Es giebt wohl kein Volk, dem nicht in
seinen frühesten Zeiten eine eigenthümliche Turnsitte er-
wachsen wäre. Diese ist aber durch verschiedene ge-
schichtliche Verhältnisse bei dem einen Volke mehr be-
günstigt worden, als bei dem anderen. Jn Deutschland
ist von den ältesten Zeiten ab hauptsächlich die Wehr-
manns-Sitte und als Vor- und Beiwerk derselben
die Waidmanns-Sitte mit nobler Passion gepflegt
worden und in der That zu einer hohen Kunstbildung
gediehen, der eine entsprechende wissenschaftliche Kunde
zur Seite steht. Jn anderen Richtungen hat sich die
deutsche Turnsitte minder kräftig entfaltet, so daß immer
der Nährstand gegen den Wehrstand, das Schutzwerk
gegen das Trutzwerk, die Bürgerlust gegen die Ritter-
lust im Nachtheile gewesen ist. Daß diese Unebenheit
der Volkssitte in der Natur des Deutschen begründet
sei, wird man schwerlich behaupten wollen. Das hieße
aussprechen, daß das deutsche Volk unfähig sei, sich zu
einem organischen Volksleben durchzubilden; indem doch
zur Darstellung dieses Organismus Männer des Frie-
dens und Friedensthaten eben so wesentlich sind als
Krieger und Kriegsthaten. Es waren innere und äu-
ßere geschichtliche Verhältnisse, welche in den ersten Zei-
ten unseres Volks und im Mittelalter das überwiegen-
de Hervortreten der Wehrsitte herbeiführten. Aber
schon das Ende des Mittelalters mahnte durch Untha-
ten, daß eine übermüthige Absonderung der Wehrmann-
schaft von der Werkmannfchaft ein Mißverhältniß sei;
und die neuere Zeit und Geschichte arbeitet emsig da-

die geſchichtliche Thatſache zu vergegenwärtigen, daß
Eroberer, denen es darum zu thun war, ein befeſtig-
tes Volk gänzlich zu vernichten, dieſen Zweck vorzugs-
weiſe durch gewaltſame Unterdrückung der volksthümli-
chen Turnſitte erreicht haben. Die Pflege und Förde-
rung der Turnſitte iſt Menſchen- und Bürgerpflicht, iſt
eine Volksangelegenheit.

Erwägen wir, was in unſerem deutſchen Vater-
lande in dieſer Angelegenheit bisher geſchehen und jetzt
zu thun iſt! Es giebt wohl kein Volk, dem nicht in
ſeinen früheſten Zeiten eine eigenthümliche Turnſitte er-
wachſen wäre. Dieſe iſt aber durch verſchiedene ge-
ſchichtliche Verhältniſſe bei dem einen Volke mehr be-
günſtigt worden, als bei dem anderen. Jn Deutſchland
iſt von den älteſten Zeiten ab hauptſächlich die Wehr-
manns-Sitte und als Vor- und Beiwerk derſelben
die Waidmanns-Sitte mit nobler Paſſion gepflegt
worden und in der That zu einer hohen Kunſtbildung
gediehen, der eine entſprechende wiſſenſchaftliche Kunde
zur Seite ſteht. Jn anderen Richtungen hat ſich die
deutſche Turnſitte minder kräftig entfaltet, ſo daß immer
der Nährſtand gegen den Wehrſtand, das Schutzwerk
gegen das Trutzwerk, die Bürgerluſt gegen die Ritter-
luſt im Nachtheile geweſen iſt. Daß dieſe Unebenheit
der Volksſitte in der Natur des Deutſchen begründet
ſei, wird man ſchwerlich behaupten wollen. Das hieße
ausſprechen, daß das deutſche Volk unfähig ſei, ſich zu
einem organiſchen Volksleben durchzubilden; indem doch
zur Darſtellung dieſes Organismus Männer des Frie-
dens und Friedensthaten eben ſo weſentlich ſind als
Krieger und Kriegsthaten. Es waren innere und äu-
ßere geſchichtliche Verhältniſſe, welche in den erſten Zei-
ten unſeres Volks und im Mittelalter das überwiegen-
de Hervortreten der Wehrſitte herbeiführten. Aber
ſchon das Ende des Mittelalters mahnte durch Untha-
ten, daß eine übermüthige Abſonderung der Wehrmann-
ſchaft von der Werkmannfchaft ein Mißverhältniß ſei;
und die neuere Zeit und Geſchichte arbeitet emſig da-

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[66/0070] die geſchichtliche Thatſache zu vergegenwärtigen, daß Eroberer, denen es darum zu thun war, ein befeſtig- tes Volk gänzlich zu vernichten, dieſen Zweck vorzugs- weiſe durch gewaltſame Unterdrückung der volksthümli- chen Turnſitte erreicht haben. Die Pflege und Förde- rung der Turnſitte iſt Menſchen- und Bürgerpflicht, iſt eine Volksangelegenheit. Erwägen wir, was in unſerem deutſchen Vater- lande in dieſer Angelegenheit bisher geſchehen und jetzt zu thun iſt! Es giebt wohl kein Volk, dem nicht in ſeinen früheſten Zeiten eine eigenthümliche Turnſitte er- wachſen wäre. Dieſe iſt aber durch verſchiedene ge- ſchichtliche Verhältniſſe bei dem einen Volke mehr be- günſtigt worden, als bei dem anderen. Jn Deutſchland iſt von den älteſten Zeiten ab hauptſächlich die Wehr- manns-Sitte und als Vor- und Beiwerk derſelben die Waidmanns-Sitte mit nobler Paſſion gepflegt worden und in der That zu einer hohen Kunſtbildung gediehen, der eine entſprechende wiſſenſchaftliche Kunde zur Seite ſteht. Jn anderen Richtungen hat ſich die deutſche Turnſitte minder kräftig entfaltet, ſo daß immer der Nährſtand gegen den Wehrſtand, das Schutzwerk gegen das Trutzwerk, die Bürgerluſt gegen die Ritter- luſt im Nachtheile geweſen iſt. Daß dieſe Unebenheit der Volksſitte in der Natur des Deutſchen begründet ſei, wird man ſchwerlich behaupten wollen. Das hieße ausſprechen, daß das deutſche Volk unfähig ſei, ſich zu einem organiſchen Volksleben durchzubilden; indem doch zur Darſtellung dieſes Organismus Männer des Frie- dens und Friedensthaten eben ſo weſentlich ſind als Krieger und Kriegsthaten. Es waren innere und äu- ßere geſchichtliche Verhältniſſe, welche in den erſten Zei- ten unſeres Volks und im Mittelalter das überwiegen- de Hervortreten der Wehrſitte herbeiführten. Aber ſchon das Ende des Mittelalters mahnte durch Untha- ten, daß eine übermüthige Abſonderung der Wehrmann- ſchaft von der Werkmannfchaft ein Mißverhältniß ſei; und die neuere Zeit und Geſchichte arbeitet emſig da-

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Zitationshilfe: Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_turnkunst01_1843/70>, abgerufen am 27.04.2024.