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Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843.

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C.
Die Rothwendigkeit der Gymnastik nach historisch
ethischen Rücksichten.
Von W. Wechsler.


Selten erscheint ein Menschenleben in seiner organi-
schen Vollkommenheit. Es wird schon vor der Geburt
entstellt durch jene unauslöschlichen Muttermäler, die
uns ohne unser Bewußtsein von der allmählig habi-
tuell gewordenen Entartung ganzer Geschlechter aufge-
prägt sind. Es wird von seiner Geburt an gehemmt
von jenen unwillkommenen äußern Störungen, deren
zahlloses Heer den langsamen Gang unsrer Entwicke-
lung feindlich umschwärmt, und durch unablässige An-
griffe uns fast jeden Schritt auf diesem mühsamen
Wege streitig macht. Und endlich, wenn es auch noch
so reich ausgestattet aus der Hand der Natur gekom-
men, wenn es glücklich allen Stürmen seiner rücksichts-
losen Umgebung entgangen ist, wird es noch mit vol-
lem Bewußtsein, in der besten Absicht von den Menschen
selbst verdorben.

Ja die meisten und weitaus größten unter den
Uebeln, woran wir leiden, sind solche, die von den Er-
ziehern unsrer Kindheit, und wenn sie uns entlassen,
von uns selbst über uns verhängt sind. Thiere kom-
men in der Regel viel leichter zur gesunden und vollendeten
Entfaltung ihres Wesens, denn die Natur ist die einzi-
ge Führerin ihrer Entwickelung, und die weiß immer

C.
Die Rothwendigkeit der Gymnaſtik nach hiſtoriſch
ethiſchen Rückſichten.
Von W. Wechsler.


Selten erſcheint ein Menſchenleben in ſeiner organi-
ſchen Vollkommenheit. Es wird ſchon vor der Geburt
entſtellt durch jene unauslöſchlichen Muttermäler, die
uns ohne unſer Bewußtſein von der allmählig habi-
tuell gewordenen Entartung ganzer Geſchlechter aufge-
prägt ſind. Es wird von ſeiner Geburt an gehemmt
von jenen unwillkommenen äußern Störungen, deren
zahlloſes Heer den langſamen Gang unſrer Entwicke-
lung feindlich umſchwärmt, und durch unabläſſige An-
griffe uns faſt jeden Schritt auf dieſem mühſamen
Wege ſtreitig macht. Und endlich, wenn es auch noch
ſo reich ausgeſtattet aus der Hand der Natur gekom-
men, wenn es glücklich allen Stürmen ſeiner rückſichts-
loſen Umgebung entgangen iſt, wird es noch mit vol-
lem Bewußtſein, in der beſten Abſicht von den Menſchen
ſelbſt verdorben.

Ja die meiſten und weitaus größten unter den
Uebeln, woran wir leiden, ſind ſolche, die von den Er-
ziehern unſrer Kindheit, und wenn ſie uns entlaſſen,
von uns ſelbſt über uns verhängt ſind. Thiere kom-
men in der Regel viel leichter zur geſunden und vollendeten
Entfaltung ihres Weſens, denn die Natur iſt die einzi-
ge Führerin ihrer Entwickelung, und die weiß immer

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[79/0083] C. Die Rothwendigkeit der Gymnaſtik nach hiſtoriſch ethiſchen Rückſichten. Von W. Wechsler. Selten erſcheint ein Menſchenleben in ſeiner organi- ſchen Vollkommenheit. Es wird ſchon vor der Geburt entſtellt durch jene unauslöſchlichen Muttermäler, die uns ohne unſer Bewußtſein von der allmählig habi- tuell gewordenen Entartung ganzer Geſchlechter aufge- prägt ſind. Es wird von ſeiner Geburt an gehemmt von jenen unwillkommenen äußern Störungen, deren zahlloſes Heer den langſamen Gang unſrer Entwicke- lung feindlich umſchwärmt, und durch unabläſſige An- griffe uns faſt jeden Schritt auf dieſem mühſamen Wege ſtreitig macht. Und endlich, wenn es auch noch ſo reich ausgeſtattet aus der Hand der Natur gekom- men, wenn es glücklich allen Stürmen ſeiner rückſichts- loſen Umgebung entgangen iſt, wird es noch mit vol- lem Bewußtſein, in der beſten Abſicht von den Menſchen ſelbſt verdorben. Ja die meiſten und weitaus größten unter den Uebeln, woran wir leiden, ſind ſolche, die von den Er- ziehern unſrer Kindheit, und wenn ſie uns entlaſſen, von uns ſelbſt über uns verhängt ſind. Thiere kom- men in der Regel viel leichter zur geſunden und vollendeten Entfaltung ihres Weſens, denn die Natur iſt die einzi- ge Führerin ihrer Entwickelung, und die weiß immer

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Zitationshilfe: Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_turnkunst01_1843/83>, abgerufen am 27.04.2024.