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Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843.

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genau, was sie will und soll. Bei uns hat sie durch
die Triebe, die sie in uns legte, nur mit schwachen
oft verkennbaren Geleisen die Richtung bezeichnet, der
wir folgen sollen; aber der Vernunft überließ sie die
Zügel des Lebenslaufes zu führen, und dabei sind wir denn
gewöhnlich nicht zum besten regiert. Denn zu einer
wahrhaft genügenden Leitung wäre eine Kenntniß aller
der Zwecke, welche die Natur mit dem Menschen im
Sinne hat, ihrer Ordnung und Unterordnung, ihrer
sämmtlichen Beziehungen nöthig, und das ist bei der
kaum übersehbaren Breite der Entfaltung, für welche
die menschliche Natur angelegt ist, nur schwer und im-
mer nur spät zu erlangen. Daher die, man sollte fast
glauben unvermeidliche Verkümmerung, an der die
Menschheit durch alle Perioden ihrer Geschichte gelit-
ten hat, die hiedurch bedingten Einseitigkeiten ihrer
Entwickelung, und das unzufriedene Streben aus einem
Zustande hinaus, dessen Mangel sich fühlt, selbst wo
man ihn nicht auszusprechen und die Mittel zum Er-
satz des Fehlenden weder zu finden noch zu brauchen
weiß.

Fangen wir, um nicht ins Weite zu schweifen,
unterhalb jener Einseitigkeit an, welche die Natur
selbst in dem Gegensatz der Geschlechter gewollt hat,
indem sie dem Weibe vorherrschende Empfänglichkeit
und Sensibilität, dem Manne den Charakter der Spon-
taneität und Jrritabilität zuwies: dieser männliche
Charakter der Kraft und des Strebens nach außen,
wie selten erscheint er in der Geschichte, was er doch
billig sollte, als der herrschende Grundcharakter der
Völker! Und doch ist es diese Eigenschaft fast aus-
schließlich, auf der die göttliche Natur des menschlichen
Geschlechtes ruht, wenn anders das Sittliche in der
Herrschaft des Geistes über die Natur besteht. Denn
wollen wir uns nicht in Pfaffenmärchen und die
wesenlosen Gespinnste des Hexenbanuers oder der
Mesmerianer versteigen: so hat der Geist in uns nur
einen Hebel, wodurch er die Körperwelt um sich her

genau, was ſie will und ſoll. Bei uns hat ſie durch
die Triebe, die ſie in uns legte, nur mit ſchwachen
oft verkennbaren Geleiſen die Richtung bezeichnet, der
wir folgen ſollen; aber der Vernunft überließ ſie die
Zügel des Lebenslaufes zu führen, und dabei ſind wir denn
gewöhnlich nicht zum beſten regiert. Denn zu einer
wahrhaft genügenden Leitung wäre eine Kenntniß aller
der Zwecke, welche die Natur mit dem Menſchen im
Sinne hat, ihrer Ordnung und Unterordnung, ihrer
ſämmtlichen Beziehungen nöthig, und das iſt bei der
kaum überſehbaren Breite der Entfaltung, für welche
die menſchliche Natur angelegt iſt, nur ſchwer und im-
mer nur ſpät zu erlangen. Daher die, man ſollte faſt
glauben unvermeidliche Verkümmerung, an der die
Menſchheit durch alle Perioden ihrer Geſchichte gelit-
ten hat, die hiedurch bedingten Einſeitigkeiten ihrer
Entwickelung, und das unzufriedene Streben aus einem
Zuſtande hinaus, deſſen Mangel ſich fühlt, ſelbſt wo
man ihn nicht auszuſprechen und die Mittel zum Er-
ſatz des Fehlenden weder zu finden noch zu brauchen
weiß.

Fangen wir, um nicht ins Weite zu ſchweifen,
unterhalb jener Einſeitigkeit an, welche die Natur
ſelbſt in dem Gegenſatz der Geſchlechter gewollt hat,
indem ſie dem Weibe vorherrſchende Empfänglichkeit
und Senſibilität, dem Manne den Charakter der Spon-
taneität und Jrritabilität zuwies: dieſer männliche
Charakter der Kraft und des Strebens nach außen,
wie ſelten erſcheint er in der Geſchichte, was er doch
billig ſollte, als der herrſchende Grundcharakter der
Völker! Und doch iſt es dieſe Eigenſchaft faſt aus-
ſchließlich, auf der die göttliche Natur des menſchlichen
Geſchlechtes ruht, wenn anders das Sittliche in der
Herrſchaft des Geiſtes über die Natur beſteht. Denn
wollen wir uns nicht in Pfaffenmärchen und die
weſenloſen Geſpinnſte des Hexenbanuers oder der
Mesmerianer verſteigen: ſo hat der Geiſt in uns nur
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[80/0084] genau, was ſie will und ſoll. Bei uns hat ſie durch die Triebe, die ſie in uns legte, nur mit ſchwachen oft verkennbaren Geleiſen die Richtung bezeichnet, der wir folgen ſollen; aber der Vernunft überließ ſie die Zügel des Lebenslaufes zu führen, und dabei ſind wir denn gewöhnlich nicht zum beſten regiert. Denn zu einer wahrhaft genügenden Leitung wäre eine Kenntniß aller der Zwecke, welche die Natur mit dem Menſchen im Sinne hat, ihrer Ordnung und Unterordnung, ihrer ſämmtlichen Beziehungen nöthig, und das iſt bei der kaum überſehbaren Breite der Entfaltung, für welche die menſchliche Natur angelegt iſt, nur ſchwer und im- mer nur ſpät zu erlangen. Daher die, man ſollte faſt glauben unvermeidliche Verkümmerung, an der die Menſchheit durch alle Perioden ihrer Geſchichte gelit- ten hat, die hiedurch bedingten Einſeitigkeiten ihrer Entwickelung, und das unzufriedene Streben aus einem Zuſtande hinaus, deſſen Mangel ſich fühlt, ſelbſt wo man ihn nicht auszuſprechen und die Mittel zum Er- ſatz des Fehlenden weder zu finden noch zu brauchen weiß. Fangen wir, um nicht ins Weite zu ſchweifen, unterhalb jener Einſeitigkeit an, welche die Natur ſelbſt in dem Gegenſatz der Geſchlechter gewollt hat, indem ſie dem Weibe vorherrſchende Empfänglichkeit und Senſibilität, dem Manne den Charakter der Spon- taneität und Jrritabilität zuwies: dieſer männliche Charakter der Kraft und des Strebens nach außen, wie ſelten erſcheint er in der Geſchichte, was er doch billig ſollte, als der herrſchende Grundcharakter der Völker! Und doch iſt es dieſe Eigenſchaft faſt aus- ſchließlich, auf der die göttliche Natur des menſchlichen Geſchlechtes ruht, wenn anders das Sittliche in der Herrſchaft des Geiſtes über die Natur beſteht. Denn wollen wir uns nicht in Pfaffenmärchen und die weſenloſen Geſpinnſte des Hexenbanuers oder der Mesmerianer verſteigen: ſo hat der Geiſt in uns nur einen Hebel, wodurch er die Körperwelt um ſich her

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Zitationshilfe: Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_turnkunst01_1843/84>, abgerufen am 27.04.2024.