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Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871].

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heftigen und lauten Ausbruch des Mitgefühles, daß wir eiligst aus dem Zimmer gebracht wurden, um die Verwirrung nicht noch zu vermehren.

Von Nicolais jüngster Tochter, Tante Lottchen, ist mir eine sehr lebendige Erinnerung geblieben: denn ich war 10 Jahre alt als sie starb. Eine schlanke zierliche Gestalt mit blassen Wangen und freundlichen Augen. Nicht bloß durch den Anzug und den Haarputz der damaligen Zeit, auch durch den allgemeinen Ausdruck des seelenvollen Gesichtes haben mich später die Bildnisse von Werthers Lotte oft an sie erinnert. Durch ihre herrliche volltönende Stimme, von der Zelter mir öfter sagte, daß sie zu den bedeutendsten Erscheinungen gehört habe, war sie früher eine Zierde der von Fasch geleiteten Singakademie gewesen. Allein vielleicht eben aus dieser Veranlassung ließ sie sich zu größerer Anstrengung, als ihr gut war, verleiten, ihre Brust wurde angegriffen und sie welkte langsam dahin. Damals indessen solfeggirte sie noch alle Morgen, und da sie gerade über unserer Kinderstube nach dem Garten hinaus wohnte, so entging uns kein Ton. Wir horchten mit großem Wohlgefallen auf die immer höher steigende Skala der getragenen, langsam anschwellenden Noten und meine Schwester, die von dem Vater ein gutes musikalisches Ohr geerbt, wußte ganz genau anzugeben, wie viel Töne noch bis zur äußersten Höhe folgen würden.

Gewährte sie uns auf diese Weise manches Vergnügen, so diente sie auch zuweilen als wirksames Schreckbild. Wenn wir gar zu arg tobten, schrien und weinten, so pflegte sie mit der Elle auf den Fußboden zu klopfen, wodurch denn eine augenblickliche Beruhigung hervor-

heftigen und lauten Ausbruch des Mitgefühles, daß wir eiligst aus dem Zimmer gebracht wurden, um die Verwirrung nicht noch zu vermehren.

Von Nicolais jüngster Tochter, Tante Lottchen, ist mir eine sehr lebendige Erinnerung geblieben: denn ich war 10 Jahre alt als sie starb. Eine schlanke zierliche Gestalt mit blassen Wangen und freundlichen Augen. Nicht bloß durch den Anzug und den Haarputz der damaligen Zeit, auch durch den allgemeinen Ausdruck des seelenvollen Gesichtes haben mich später die Bildnisse von Werthers Lotte oft an sie erinnert. Durch ihre herrliche volltönende Stimme, von der Zelter mir öfter sagte, daß sie zu den bedeutendsten Erscheinungen gehört habe, war sie früher eine Zierde der von Fasch geleiteten Singakademie gewesen. Allein vielleicht eben aus dieser Veranlassung ließ sie sich zu größerer Anstrengung, als ihr gut war, verleiten, ihre Brust wurde angegriffen und sie welkte langsam dahin. Damals indessen solfeggirte sie noch alle Morgen, und da sie gerade über unserer Kinderstube nach dem Garten hinaus wohnte, so entging uns kein Ton. Wir horchten mit großem Wohlgefallen auf die immer höher steigende Skala der getragenen, langsam anschwellenden Noten und meine Schwester, die von dem Vater ein gutes musikalisches Ohr geerbt, wußte ganz genau anzugeben, wie viel Töne noch bis zur äußersten Höhe folgen würden.

Gewährte sie uns auf diese Weise manches Vergnügen, so diente sie auch zuweilen als wirksames Schreckbild. Wenn wir gar zu arg tobten, schrien und weinten, so pflegte sie mit der Elle auf den Fußboden zu klopfen, wodurch denn eine augenblickliche Beruhigung hervor-

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[10/0022] heftigen und lauten Ausbruch des Mitgefühles, daß wir eiligst aus dem Zimmer gebracht wurden, um die Verwirrung nicht noch zu vermehren. Von Nicolais jüngster Tochter, Tante Lottchen, ist mir eine sehr lebendige Erinnerung geblieben: denn ich war 10 Jahre alt als sie starb. Eine schlanke zierliche Gestalt mit blassen Wangen und freundlichen Augen. Nicht bloß durch den Anzug und den Haarputz der damaligen Zeit, auch durch den allgemeinen Ausdruck des seelenvollen Gesichtes haben mich später die Bildnisse von Werthers Lotte oft an sie erinnert. Durch ihre herrliche volltönende Stimme, von der Zelter mir öfter sagte, daß sie zu den bedeutendsten Erscheinungen gehört habe, war sie früher eine Zierde der von Fasch geleiteten Singakademie gewesen. Allein vielleicht eben aus dieser Veranlassung ließ sie sich zu größerer Anstrengung, als ihr gut war, verleiten, ihre Brust wurde angegriffen und sie welkte langsam dahin. Damals indessen solfeggirte sie noch alle Morgen, und da sie gerade über unserer Kinderstube nach dem Garten hinaus wohnte, so entging uns kein Ton. Wir horchten mit großem Wohlgefallen auf die immer höher steigende Skala der getragenen, langsam anschwellenden Noten und meine Schwester, die von dem Vater ein gutes musikalisches Ohr geerbt, wußte ganz genau anzugeben, wie viel Töne noch bis zur äußersten Höhe folgen würden. Gewährte sie uns auf diese Weise manches Vergnügen, so diente sie auch zuweilen als wirksames Schreckbild. Wenn wir gar zu arg tobten, schrien und weinten, so pflegte sie mit der Elle auf den Fußboden zu klopfen, wodurch denn eine augenblickliche Beruhigung hervor-

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Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871], S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen01_1871/22>, abgerufen am 27.04.2024.