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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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O Wochen der vorersten Liebe! warum ver¬
achten wir euch mehr als unsre spätern Narrhei¬
ten? Ach an allen eueren sieben Tagen, die an
euch wie sieben Minuten aussehen, waren wir un¬
schuldig, uneigennützig und voll Liebe: Ihr schö¬
nen Wochen! ihr seid Schmetterlinge, die aus ei¬
nem unbekannten Jahre *) herüber lebten, um un¬
serem Lebens-Frühlinge vorzuflattern! Ich wollte,
ich dächte von euch noch so enthusiastisch wie sonst,
von euch, wo weder Genuß nach Hofnung an
Gränzen stockten! -- du armer Mensch! wenn der
zarte weiße die ganze Natur überzaubernde Nebel
deiner Kinderjahre herunter ist: so bleibst du
doch nicht lange in deinem Sonnenlichte, sondern
der gefallene Nebel kriecht wieder als dichtere
Gewitterwolke unten rings am Blauen herauf
und am Jünglings-Mittage stehest du unter
den Blitzen und Schlägen deiner Leidenschaften!
-- Und Abends regnet dein zerschlitzter Himmel
noch fort! --


*) Die Schmetterlinge im Frühling haben sich (im Zölibat)
aus dem vorigen Jahre hergefristet; die im Herbst sind
Kinder des gegenwärtigen Jahres.

O Wochen der vorerſten Liebe! warum ver¬
achten wir euch mehr als unſre ſpaͤtern Narrhei¬
ten? Ach an allen eueren ſieben Tagen, die an
euch wie ſieben Minuten ausſehen, waren wir un¬
ſchuldig, uneigennuͤtzig und voll Liebe: Ihr ſchoͤ¬
nen Wochen! ihr ſeid Schmetterlinge, die aus ei¬
nem unbekannten Jahre *) heruͤber lebten, um un¬
ſerem Lebens-Fruͤhlinge vorzuflattern! Ich wollte,
ich daͤchte von euch noch ſo enthuſiaſtiſch wie ſonſt,
von euch, wo weder Genuß nach Hofnung an
Graͤnzen ſtockten! — du armer Menſch! wenn der
zarte weiße die ganze Natur uͤberzaubernde Nebel
deiner Kinderjahre herunter iſt: ſo bleibſt du
doch nicht lange in deinem Sonnenlichte, ſondern
der gefallene Nebel kriecht wieder als dichtere
Gewitterwolke unten rings am Blauen herauf
und am Juͤnglings-Mittage ſteheſt du unter
den Blitzen und Schlaͤgen deiner Leidenſchaften!
— Und Abends regnet dein zerſchlitzter Himmel
noch fort! —


*) Die Schmetterlinge im Frühling haben ſich (im Zölibat)
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[94/0130] O Wochen der vorerſten Liebe! warum ver¬ achten wir euch mehr als unſre ſpaͤtern Narrhei¬ ten? Ach an allen eueren ſieben Tagen, die an euch wie ſieben Minuten ausſehen, waren wir un¬ ſchuldig, uneigennuͤtzig und voll Liebe: Ihr ſchoͤ¬ nen Wochen! ihr ſeid Schmetterlinge, die aus ei¬ nem unbekannten Jahre *) heruͤber lebten, um un¬ ſerem Lebens-Fruͤhlinge vorzuflattern! Ich wollte, ich daͤchte von euch noch ſo enthuſiaſtiſch wie ſonſt, von euch, wo weder Genuß nach Hofnung an Graͤnzen ſtockten! — du armer Menſch! wenn der zarte weiße die ganze Natur uͤberzaubernde Nebel deiner Kinderjahre herunter iſt: ſo bleibſt du doch nicht lange in deinem Sonnenlichte, ſondern der gefallene Nebel kriecht wieder als dichtere Gewitterwolke unten rings am Blauen herauf und am Juͤnglings-Mittage ſteheſt du unter den Blitzen und Schlaͤgen deiner Leidenſchaften! — Und Abends regnet dein zerſchlitzter Himmel noch fort! — *) Die Schmetterlinge im Frühling haben ſich (im Zölibat) aus dem vorigen Jahre hergefriſtet; die im Herbſt ſind Kinder des gegenwärtigen Jahres.

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/130>, abgerufen am 26.04.2024.