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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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genialischen Menschen sprach: o was sind die Stun¬
den der homogensten Lektüre, selbst die Stunden
der einsamen Emporhebung gegen eine Stunde,
wo eine große Seele lebendig auf dich wirkt und
durch ihre Gegenwart deine Seele und deine Idea¬
le verdoppelt und deine Gedanken verkörpert? --

Gustav nahm sich vor, sich aus dem Schlosse
zu Ottomar zu entfernen, um es zu vergessen,
wer noch weiter drinnen fehle. Es war ein stum¬
mer ausgewölkter Abend, ein Schatte nicht des
schon weit weggezognen Sommers sondern des Nach¬
sommers als Gustav aufbrach, nachdem er vergeb¬
lich auf die Rückkehr und Gesellschaft des -- Dok¬
tors gewartet hatte. In der leeren Luft, durch die
keine gefiederte Töne, keine klopfende Herzen mehr
flogen, zeigte sich nichts Lebendiges als die ewige
Sonne, die kein Erdenherbst bleicht und fället und
die ewig offen unsern Erdball immerfort ansieht,
indeß unter ihr tausend Augen sich öfnen und tau¬
send sich schliessen. An einem solchen Abend springt
der Verband von alten Wunden auf, die wir in uns tra¬
gen. Gustav kam still im Dorfe an; am Eingange
des Gartens, der das Ottomarsche Schloß halb
umlief, stand ein Knabe, der die erhabene Melo¬

genialiſchen Menſchen ſprach: o was ſind die Stun¬
den der homogenſten Lektuͤre, ſelbſt die Stunden
der einſamen Emporhebung gegen eine Stunde,
wo eine große Seele lebendig auf dich wirkt und
durch ihre Gegenwart deine Seele und deine Idea¬
le verdoppelt und deine Gedanken verkoͤrpert? —

Guſtav nahm ſich vor, ſich aus dem Schloſſe
zu Ottomar zu entfernen, um es zu vergeſſen,
wer noch weiter drinnen fehle. Es war ein ſtum¬
mer ausgewoͤlkter Abend, ein Schatte nicht des
ſchon weit weggezognen Sommers ſondern des Nach¬
ſommers als Guſtav aufbrach, nachdem er vergeb¬
lich auf die Ruͤckkehr und Geſellſchaft des — Dok¬
tors gewartet hatte. In der leeren Luft, durch die
keine gefiederte Toͤne, keine klopfende Herzen mehr
flogen, zeigte ſich nichts Lebendiges als die ewige
Sonne, die kein Erdenherbſt bleicht und faͤllet und
die ewig offen unſern Erdball immerfort anſieht,
indeß unter ihr tauſend Augen ſich oͤfnen und tau¬
ſend ſich ſchlieſſen. An einem ſolchen Abend ſpringt
der Verband von alten Wunden auf, die wir in uns tra¬
gen. Guſtav kam ſtill im Dorfe an; am Eingange
des Gartens, der das Ottomarſche Schloß halb
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[166/0176] genialiſchen Menſchen ſprach: o was ſind die Stun¬ den der homogenſten Lektuͤre, ſelbſt die Stunden der einſamen Emporhebung gegen eine Stunde, wo eine große Seele lebendig auf dich wirkt und durch ihre Gegenwart deine Seele und deine Idea¬ le verdoppelt und deine Gedanken verkoͤrpert? — Guſtav nahm ſich vor, ſich aus dem Schloſſe zu Ottomar zu entfernen, um es zu vergeſſen, wer noch weiter drinnen fehle. Es war ein ſtum¬ mer ausgewoͤlkter Abend, ein Schatte nicht des ſchon weit weggezognen Sommers ſondern des Nach¬ ſommers als Guſtav aufbrach, nachdem er vergeb¬ lich auf die Ruͤckkehr und Geſellſchaft des — Dok¬ tors gewartet hatte. In der leeren Luft, durch die keine gefiederte Toͤne, keine klopfende Herzen mehr flogen, zeigte ſich nichts Lebendiges als die ewige Sonne, die kein Erdenherbſt bleicht und faͤllet und die ewig offen unſern Erdball immerfort anſieht, indeß unter ihr tauſend Augen ſich oͤfnen und tau¬ ſend ſich ſchlieſſen. An einem ſolchen Abend ſpringt der Verband von alten Wunden auf, die wir in uns tra¬ gen. Guſtav kam ſtill im Dorfe an; am Eingange des Gartens, der das Ottomarſche Schloß halb umlief, ſtand ein Knabe, der die erhabene Melo¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/176>, abgerufen am 27.04.2024.