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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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genwart fliehenden Geist. Abends bestiegen sie
die schönste Höhe über Neapel, das Kamaldo¬
lenser Kloster, wo er unter den Freuden der
Aussicht in grauer Ferne hinter dem Posilippo
den hohen Epomeo stehen sah. Er hielt sich
nicht länger, sondern fieng, an einer dichter
umblühten Stelle, die er sich dazu aussuchte,
diesen Brief an Linda an:

"Endlich, edle Seele, kann ich zu Dir reden
und Deine Insel wieder schauen, wiewohl nur als
eine aufgerichtete sonnenrothe Abendwolke am
Horizont. Linda, Linda, o daß ich Dich habe
und hatte! Dauert denn der zweitägige Götter-
Traum noch herüber ins kalte Heute? Du bist jetzt
so fern und stumm und ich höre kein Ja. Als
ich in Rom auf der Peterskuppel in den blauen
Morgenhimmel sah und das Leben um mich
brausend schwoll, wie die Lüste mich umwehten:
so war mir als müßt' ich mich in ein fliegendes
Königsschiff werfen und ein Ufer suchen, das
unter dem tiefsten Sternbild grünt; als müßt'
ich wie eine Kaskade hinabflattern durch den
Himmel und mich drunten durch das steinige

genwart fliehenden Geiſt. Abends beſtiegen ſie
die ſchönſte Höhe über Neapel, das Kamaldo¬
lenſer Kloſter, wo er unter den Freuden der
Ausſicht in grauer Ferne hinter dem Poſilippo
den hohen Epomeo ſtehen ſah. Er hielt ſich
nicht länger, ſondern fieng, an einer dichter
umblühten Stelle, die er ſich dazu ausſuchte,
dieſen Brief an Linda an:

„Endlich, edle Seele, kann ich zu Dir reden
und Deine Inſel wieder ſchauen, wiewohl nur als
eine aufgerichtete ſonnenrothe Abendwolke am
Horizont. Linda, Linda, o daß ich Dich habe
und hatte! Dauert denn der zweitägige Götter-
Traum noch herüber ins kalte Heute? Du biſt jetzt
ſo fern und ſtumm und ich höre kein Ja. Als
ich in Rom auf der Peterskuppel in den blauen
Morgenhimmel ſah und das Leben um mich
brauſend ſchwoll, wie die Lüſte mich umwehten:
ſo war mir als müßt' ich mich in ein fliegendes
Königsſchiff werfen und ein Ufer ſuchen, das
unter dem tiefſten Sternbild grünt; als müßt'
ich wie eine Kaskade hinabflattern durch den
Himmel und mich drunten durch das ſteinige

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[174/0186] genwart fliehenden Geiſt. Abends beſtiegen ſie die ſchönſte Höhe über Neapel, das Kamaldo¬ lenſer Kloſter, wo er unter den Freuden der Ausſicht in grauer Ferne hinter dem Poſilippo den hohen Epomeo ſtehen ſah. Er hielt ſich nicht länger, ſondern fieng, an einer dichter umblühten Stelle, die er ſich dazu ausſuchte, dieſen Brief an Linda an: „Endlich, edle Seele, kann ich zu Dir reden und Deine Inſel wieder ſchauen, wiewohl nur als eine aufgerichtete ſonnenrothe Abendwolke am Horizont. Linda, Linda, o daß ich Dich habe und hatte! Dauert denn der zweitägige Götter- Traum noch herüber ins kalte Heute? Du biſt jetzt ſo fern und ſtumm und ich höre kein Ja. Als ich in Rom auf der Peterskuppel in den blauen Morgenhimmel ſah und das Leben um mich brauſend ſchwoll, wie die Lüſte mich umwehten: ſo war mir als müßt' ich mich in ein fliegendes Königsſchiff werfen und ein Ufer ſuchen, das unter dem tiefſten Sternbild grünt; als müßt' ich wie eine Kaskade hinabflattern durch den Himmel und mich drunten durch das ſteinige

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/186>, abgerufen am 06.05.2024.