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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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ten mein Lebensschiff oder tragen die Anker."
Draussen sah er die alte Leichenseherin auf dem
Blumenbühler Wege stehen, die ihm einst bei
der Begleitung des Kahlkopfs begegnete; sie
schauete starr hinauf dem erleuchteten Leichen¬
wagen nach und glaubte, Träume zu denken
und die Zukunft, als sie der Wirklichkeit zu¬
schauete. Überall lagen in seiner Bahn die zu¬
ckenden Spinnenfüße, welche der erdrückten
Tarantel der Vergangenheit ausgerissen wa¬
ren. Durch einen Flor sah er das Leben lie¬
gen, wiewohl es kein schwarzer sondern ein
grüner war.

Sehnsüchtig kam er im Tartarus, aber
schaudernd vor ihm, weil ihm die Vergangen¬
heit mit ihren Geistern nachzog, auf dem herrn¬
hutischen Gottesacker an, wo in einem Garten
ohne Blumen, den eingesunkne, eingeschlafne
Trauerbirken umstanden, der weisse Altar mit
dem Vater-Herzen und der goldnen Inschrift
schimmerte: "nimm mein letztes Opfer, Allgü¬
tiger!" Vor dem in eine Brust von Stein ge¬
schlossenen Herzen, das sich mit nichts regte,
nicht mit einem Stäubchen, that er sein kindli¬

ten mein Lebensſchiff oder tragen die Anker.“
Drauſſen ſah er die alte Leichenſeherin auf dem
Blumenbühler Wege ſtehen, die ihm einſt bei
der Begleitung des Kahlkopfs begegnete; ſie
ſchauete ſtarr hinauf dem erleuchteten Leichen¬
wagen nach und glaubte, Träume zu denken
und die Zukunft, als ſie der Wirklichkeit zu¬
ſchauete. Überall lagen in ſeiner Bahn die zu¬
ckenden Spinnenfüße, welche der erdrückten
Tarantel der Vergangenheit ausgeriſſen wa¬
ren. Durch einen Flor ſah er das Leben lie¬
gen, wiewohl es kein ſchwarzer ſondern ein
grüner war.

Sehnſüchtig kam er im Tartarus, aber
ſchaudernd vor ihm, weil ihm die Vergangen¬
heit mit ihren Geiſtern nachzog, auf dem herrn¬
hutiſchen Gottesacker an, wo in einem Garten
ohne Blumen, den eingeſunkne, eingeſchlafne
Trauerbirken umſtanden, der weiſſe Altar mit
dem Vater-Herzen und der goldnen Inſchrift
ſchimmerte: „nimm mein letztes Opfer, Allgü¬
tiger!“ Vor dem in eine Bruſt von Stein ge¬
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[554/0566] ten mein Lebensſchiff oder tragen die Anker.“ Drauſſen ſah er die alte Leichenſeherin auf dem Blumenbühler Wege ſtehen, die ihm einſt bei der Begleitung des Kahlkopfs begegnete; ſie ſchauete ſtarr hinauf dem erleuchteten Leichen¬ wagen nach und glaubte, Träume zu denken und die Zukunft, als ſie der Wirklichkeit zu¬ ſchauete. Überall lagen in ſeiner Bahn die zu¬ ckenden Spinnenfüße, welche der erdrückten Tarantel der Vergangenheit ausgeriſſen wa¬ ren. Durch einen Flor ſah er das Leben lie¬ gen, wiewohl es kein ſchwarzer ſondern ein grüner war. Sehnſüchtig kam er im Tartarus, aber ſchaudernd vor ihm, weil ihm die Vergangen¬ heit mit ihren Geiſtern nachzog, auf dem herrn¬ hutiſchen Gottesacker an, wo in einem Garten ohne Blumen, den eingeſunkne, eingeſchlafne Trauerbirken umſtanden, der weiſſe Altar mit dem Vater-Herzen und der goldnen Inſchrift ſchimmerte: „nimm mein letztes Opfer, Allgü¬ tiger!“ Vor dem in eine Bruſt von Stein ge¬ ſchloſſenen Herzen, das ſich mit nichts regte, nicht mit einem Stäubchen, that er ſein kindli¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/566>, abgerufen am 29.04.2024.