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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785.

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es könnte doch wahr seyn, so fangt er an Grün-
de zusammen zu lesen, warum es nicht wahr
seyn kann.

Und überall, was ihm ganz wahr ist, dafür
braucht er keine Gründe, und sucht keine. Erst
wenns ihm ahndet, er könne sich irren, geht er
auf das gefährliche Jagen nach Gründen, auf
welchem er so oft in die Labyrinthe des Irr-
thums gerathet, wo für ihn keine Auswege
mehr sind.

Warum ist er ein Narr, und thut das?
Was will der Mensch mit dem Jagen nach vie-
len Gründen? -- Die Wahrheit ruhet auf
ihrem Felsen als auf ihrem einzigen Grund.
Die Unwahrheit hingegen hat ihre Lage immer
hinter vielen Gründen, und verbirgt sich hin-
ter ihnen, wie hinter einem Haufen zusammen-
gelesener Kieselsteinen. -- Von da bringt sie
aus den Schlupfwinkeln ihres Sizes den ar-
men Jägern nach Gründen, Steine aller Art
und Gattung und Farbe, wie ein jeder von ih-
nen sich den Felsen der Wahrheit an Art und
Farbe und Gattung in seinem Kopfe vorstellt,
hervor. Die Schlange tragt die glänzenden
Steine zwischen ihren Zähnen auf ihrer Zun-
ge, und beleuchtet sie mit dem Glanz ihrer
Augen.

Aber das Schooskind der Wahrheit, die
ruhende Einfalt, kennt das Klappern ihres

es koͤnnte doch wahr ſeyn, ſo fangt er an Gruͤn-
de zuſammen zu leſen, warum es nicht wahr
ſeyn kann.

Und uͤberall, was ihm ganz wahr iſt, dafuͤr
braucht er keine Gruͤnde, und ſucht keine. Erſt
wenns ihm ahndet, er koͤnne ſich irren, geht er
auf das gefaͤhrliche Jagen nach Gruͤnden, auf
welchem er ſo oft in die Labyrinthe des Irr-
thums gerathet, wo fuͤr ihn keine Auswege
mehr ſind.

Warum iſt er ein Narr, und thut das?
Was will der Menſch mit dem Jagen nach vie-
len Gruͤnden? — Die Wahrheit ruhet auf
ihrem Felſen als auf ihrem einzigen Grund.
Die Unwahrheit hingegen hat ihre Lage immer
hinter vielen Gruͤnden, und verbirgt ſich hin-
ter ihnen, wie hinter einem Haufen zuſammen-
geleſener Kieſelſteinen. — Von da bringt ſie
aus den Schlupfwinkeln ihres Sizes den ar-
men Jaͤgern nach Gruͤnden, Steine aller Art
und Gattung und Farbe, wie ein jeder von ih-
nen ſich den Felſen der Wahrheit an Art und
Farbe und Gattung in ſeinem Kopfe vorſtellt,
hervor. Die Schlange tragt die glaͤnzenden
Steine zwiſchen ihren Zaͤhnen auf ihrer Zun-
ge, und beleuchtet ſie mit dem Glanz ihrer
Augen.

Aber das Schooskind der Wahrheit, die
ruhende Einfalt, kennt das Klappern ihres

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[370/0392] es koͤnnte doch wahr ſeyn, ſo fangt er an Gruͤn- de zuſammen zu leſen, warum es nicht wahr ſeyn kann. Und uͤberall, was ihm ganz wahr iſt, dafuͤr braucht er keine Gruͤnde, und ſucht keine. Erſt wenns ihm ahndet, er koͤnne ſich irren, geht er auf das gefaͤhrliche Jagen nach Gruͤnden, auf welchem er ſo oft in die Labyrinthe des Irr- thums gerathet, wo fuͤr ihn keine Auswege mehr ſind. Warum iſt er ein Narr, und thut das? Was will der Menſch mit dem Jagen nach vie- len Gruͤnden? — Die Wahrheit ruhet auf ihrem Felſen als auf ihrem einzigen Grund. Die Unwahrheit hingegen hat ihre Lage immer hinter vielen Gruͤnden, und verbirgt ſich hin- ter ihnen, wie hinter einem Haufen zuſammen- geleſener Kieſelſteinen. — Von da bringt ſie aus den Schlupfwinkeln ihres Sizes den ar- men Jaͤgern nach Gruͤnden, Steine aller Art und Gattung und Farbe, wie ein jeder von ih- nen ſich den Felſen der Wahrheit an Art und Farbe und Gattung in ſeinem Kopfe vorſtellt, hervor. Die Schlange tragt die glaͤnzenden Steine zwiſchen ihren Zaͤhnen auf ihrer Zun- ge, und beleuchtet ſie mit dem Glanz ihrer Augen. Aber das Schooskind der Wahrheit, die ruhende Einfalt, kennt das Klappern ihres

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard03_1785/392>, abgerufen am 29.04.2024.