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Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

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deres Organ des Körpers ausschliesslich der "Sitz" des Senso¬
riums sei. Eine derartige strenge Zerlegung jener Beweise giebt
uns eine gewisse Erkenntniss, was als unbezweifelt sicheres
Gut des Wissens betrachtet werden darf, was nicht. Erst
nachdem wir durch diese sichere Erkenntniss alle Vorurtheile
und alle Scrupel abgeworfen haben, welche ein noch nicht
hinreichend in seiner Nichtigkeit erkanntes Dogma und ver¬
jährte Vorurtheile in uns aufrecht zu erhalten vermöchten, be¬
treten wir mit freierem Blicke das Gebiet unserer Forschung.

Betrachten wir sämmtliche von den Autoren geltend ge¬
machte Momente, so sehen wir dieselben von vielen Gesichts¬
punkten aus bemüht, dem schreckhaften Gespenst der Theil¬
barkeit des Bewusstseins bei den Wirbelthieren durch alle
Mittel zu entrinnen. Ohnmächtig und spärlich nur vermögen
sie die Schwäche ihrer Dialektik zu verdecken; denn die Wahr¬
heit lässt sich eben doch nicht so ganz leicht aus dem Felde
schlagen. Sehen wir zu, ob unsere Behauptung wahr sei.

I. Zunächst liegt einem grossen Theile von Experimenten
die theils ausgesprochene, theils stillschweigend als ausgemacht
betrachtete Idee zu Grunde, dass die "Seele" oder wie wir
sagen: das Sensorium ein einheitliches, untheilbares Ganze dar¬
stelle. So stellt bereits Blane im vorigen Jahrhundert das
Argument auf, dass Empfindung und Bewusstsein nicht in zwei
von einander getrennten Theilen des Körpers stattfinden könne.
(Philosophical Transactions v. 1788 und Select Dissertations.
p. 262.) Seinem Vorgange haben sich Marshall Hall, Grainger,
Flourens und im Allgemeinen auch Volkmann und Kürschner
angeschlossen. Um aus den vielen Versuchen nur einen her¬
auszugreifen, möge folgender, von M. Hall an einem Frosche
angestellte hier beispielsweise eine Stelle finden:

"Bei einem Frosche wurde das Rückenmark zwischen den
"vorderen und hinteren Extremitäten durchgeschnitten. Der
"Kopf und die vorderen Extremitäten allein (?) waren spon¬
"taner, absichtlicher Bewegung fähig; die Respiration regel¬
"mässig. Die hinteren Extremitäten waren indessen nicht ge¬

deres Organ des Körpers ausschliesslich der „Sitz“ des Senso¬
riums sei. Eine derartige strenge Zerlegung jener Beweise giebt
uns eine gewisse Erkenntniss, was als unbezweifelt sicheres
Gut des Wissens betrachtet werden darf, was nicht. Erst
nachdem wir durch diese sichere Erkenntniss alle Vorurtheile
und alle Scrupel abgeworfen haben, welche ein noch nicht
hinreichend in seiner Nichtigkeit erkanntes Dogma und ver¬
jährte Vorurtheile in uns aufrecht zu erhalten vermöchten, be¬
treten wir mit freierem Blicke das Gebiet unserer Forschung.

Betrachten wir sämmtliche von den Autoren geltend ge¬
machte Momente, so sehen wir dieselben von vielen Gesichts¬
punkten aus bemüht, dem schreckhaften Gespenst der Theil¬
barkeit des Bewusstseins bei den Wirbelthieren durch alle
Mittel zu entrinnen. Ohnmächtig und spärlich nur vermögen
sie die Schwäche ihrer Dialektik zu verdecken; denn die Wahr¬
heit lässt sich eben doch nicht so ganz leicht aus dem Felde
schlagen. Sehen wir zu, ob unsere Behauptung wahr sei.

I. Zunächst liegt einem grossen Theile von Experimenten
die theils ausgesprochene, theils stillschweigend als ausgemacht
betrachtete Idee zu Grunde, dass die „Seele“ oder wie wir
sagen: das Sensorium ein einheitliches, untheilbares Ganze dar¬
stelle. So stellt bereits Blane im vorigen Jahrhundert das
Argument auf, dass Empfindung und Bewusstsein nicht in zwei
von einander getrennten Theilen des Körpers stattfinden könne.
(Philosophical Transactions v. 1788 und Select Dissertations.
p. 262.) Seinem Vorgange haben sich Marshall Hall, Grainger,
Flourens und im Allgemeinen auch Volkmann und Kürschner
angeschlossen. Um aus den vielen Versuchen nur einen her¬
auszugreifen, möge folgender, von M. Hall an einem Frosche
angestellte hier beispielsweise eine Stelle finden:

„Bei einem Frosche wurde das Rückenmark zwischen den
„vorderen und hinteren Extremitäten durchgeschnitten. Der
„Kopf und die vorderen Extremitäten allein (?) waren spon¬
„taner, absichtlicher Bewegung fähig; die Respiration regel¬
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[30/0052] deres Organ des Körpers ausschliesslich der „Sitz“ des Senso¬ riums sei. Eine derartige strenge Zerlegung jener Beweise giebt uns eine gewisse Erkenntniss, was als unbezweifelt sicheres Gut des Wissens betrachtet werden darf, was nicht. Erst nachdem wir durch diese sichere Erkenntniss alle Vorurtheile und alle Scrupel abgeworfen haben, welche ein noch nicht hinreichend in seiner Nichtigkeit erkanntes Dogma und ver¬ jährte Vorurtheile in uns aufrecht zu erhalten vermöchten, be¬ treten wir mit freierem Blicke das Gebiet unserer Forschung. Betrachten wir sämmtliche von den Autoren geltend ge¬ machte Momente, so sehen wir dieselben von vielen Gesichts¬ punkten aus bemüht, dem schreckhaften Gespenst der Theil¬ barkeit des Bewusstseins bei den Wirbelthieren durch alle Mittel zu entrinnen. Ohnmächtig und spärlich nur vermögen sie die Schwäche ihrer Dialektik zu verdecken; denn die Wahr¬ heit lässt sich eben doch nicht so ganz leicht aus dem Felde schlagen. Sehen wir zu, ob unsere Behauptung wahr sei. I. Zunächst liegt einem grossen Theile von Experimenten die theils ausgesprochene, theils stillschweigend als ausgemacht betrachtete Idee zu Grunde, dass die „Seele“ oder wie wir sagen: das Sensorium ein einheitliches, untheilbares Ganze dar¬ stelle. So stellt bereits Blane im vorigen Jahrhundert das Argument auf, dass Empfindung und Bewusstsein nicht in zwei von einander getrennten Theilen des Körpers stattfinden könne. (Philosophical Transactions v. 1788 und Select Dissertations. p. 262.) Seinem Vorgange haben sich Marshall Hall, Grainger, Flourens und im Allgemeinen auch Volkmann und Kürschner angeschlossen. Um aus den vielen Versuchen nur einen her¬ auszugreifen, möge folgender, von M. Hall an einem Frosche angestellte hier beispielsweise eine Stelle finden: „Bei einem Frosche wurde das Rückenmark zwischen den „vorderen und hinteren Extremitäten durchgeschnitten. Der „Kopf und die vorderen Extremitäten allein (?) waren spon¬ „taner, absichtlicher Bewegung fähig; die Respiration regel¬ „mässig. Die hinteren Extremitäten waren indessen nicht ge¬

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Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/52>, abgerufen am 30.04.2024.