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Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825.

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Und sprach: Seht ihr nun, lieben Kind, ppo_291.002
Woher sich euer Elend findt? ppo_291.003
Daher, daß Niemand jeder Frist ppo_291.004
Mit seinem Stand zufrieden ist. ppo_291.005
Was Gott und die Natur uns geben, ppo_291.006
Das ist uns nimmer gut und eben. ppo_291.007
Man muß stets nach ein'm andern gaffen, ppo_291.008
Das macht die ganze Welt voll Affen.
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2) von Moritz Aug. v. Thümmel (+ 1817).

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Bruchstück aus s. Wilhelmine.

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-- Nah an der glänzenden Residenz eines glücklichen ppo_291.012
Fürsten, nicht fern von der schiffbaren Elbe, verbreiteten ppo_291.013
sich in dem anmuthigsten Thale zwanzig kleine Wohnungen ppo_291.014
fröhlicher Landleute. Junge Haselstauden und wohlriechende ppo_291.015
Birken verbauten dieses Landgut in Schatten, ppo_291.016
und versüßten dem fleißigen Bauer die entkräftende Arbeit, ppo_291.017
wenn der Hundsstern wütete, und, entblättert ppo_291.018
vom Boreas, flammte dieß nutzbare Gebüsch in wohlthätigen ppo_291.019
Oefen, wenn der Winter das Thal mit Schnee ppo_291.020
füllte, und nun ein Nachbar zum andern schlich, um die ppo_291.021
langen müßigen Stunden durch schlaue Gespräche zu verkürzen. ppo_291.022
So lebten diese Hüttenbewohner ruhig und mit ppo_291.023
jeder Jahreszeit zufrieden.

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Nur der Pastor des Dorfes allein, der gelehrte Sebaldus, ppo_291.025
hatte seit vier unglücklichen Jahren die ländliche ppo_291.026
Munterkeit verloren, die auch sonst auf seiner offenen ppo_291.027
Stirne gezeichnet war. Ein geheimer Kummer peinigte ppo_291.028
sein Herz. Wenn er die ganze Woche hindurch in der ppo_291.029
Einsamkeit seiner verrußten Klause getrauert hatte; dann ppo_291.030
winselte er am Sonntage der schlafenden Gemeinde unleidliche ppo_291.031
Reden vor, und selbst bei dem theuer bezahlten ppo_291.032
Leichensermone verließ ihn seine sonst männliche Stimme.

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Und sprach: Seht ihr nun, lieben Kind, ppo_291.002
Woher sich euer Elend findt? ppo_291.003
Daher, daß Niemand jeder Frist ppo_291.004
Mit seinem Stand zufrieden ist. ppo_291.005
Was Gott und die Natur uns geben, ppo_291.006
Das ist uns nimmer gut und eben. ppo_291.007
Man muß stets nach ein'm andern gaffen, ppo_291.008
Das macht die ganze Welt voll Affen.
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2) von Moritz Aug. v. Thümmel († 1817).

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Bruchstück aus s. Wilhelmine.

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— Nah an der glänzenden Residenz eines glücklichen ppo_291.012
Fürsten, nicht fern von der schiffbaren Elbe, verbreiteten ppo_291.013
sich in dem anmuthigsten Thale zwanzig kleine Wohnungen ppo_291.014
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Birken verbauten dieses Landgut in Schatten, ppo_291.016
und versüßten dem fleißigen Bauer die entkräftende Arbeit, ppo_291.017
wenn der Hundsstern wütete, und, entblättert ppo_291.018
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Oefen, wenn der Winter das Thal mit Schnee ppo_291.020
füllte, und nun ein Nachbar zum andern schlich, um die ppo_291.021
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So lebten diese Hüttenbewohner ruhig und mit ppo_291.023
jeder Jahreszeit zufrieden.

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Nur der Pastor des Dorfes allein, der gelehrte Sebaldus, ppo_291.025
hatte seit vier unglücklichen Jahren die ländliche ppo_291.026
Munterkeit verloren, die auch sonst auf seiner offenen ppo_291.027
Stirne gezeichnet war. Ein geheimer Kummer peinigte ppo_291.028
sein Herz. Wenn er die ganze Woche hindurch in der ppo_291.029
Einsamkeit seiner verrußten Klause getrauert hatte; dann ppo_291.030
winselte er am Sonntage der schlafenden Gemeinde unleidliche ppo_291.031
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[291/0303] ppo_291.001 Und sprach: Seht ihr nun, lieben Kind, ppo_291.002 Woher sich euer Elend findt? ppo_291.003 Daher, daß Niemand jeder Frist ppo_291.004 Mit seinem Stand zufrieden ist. ppo_291.005 Was Gott und die Natur uns geben, ppo_291.006 Das ist uns nimmer gut und eben. ppo_291.007 Man muß stets nach ein'm andern gaffen, ppo_291.008 Das macht die ganze Welt voll Affen. ppo_291.009 2) von Moritz Aug. v. Thümmel († 1817). ppo_291.010 Bruchstück aus s. Wilhelmine. ppo_291.011 — Nah an der glänzenden Residenz eines glücklichen ppo_291.012 Fürsten, nicht fern von der schiffbaren Elbe, verbreiteten ppo_291.013 sich in dem anmuthigsten Thale zwanzig kleine Wohnungen ppo_291.014 fröhlicher Landleute. Junge Haselstauden und wohlriechende ppo_291.015 Birken verbauten dieses Landgut in Schatten, ppo_291.016 und versüßten dem fleißigen Bauer die entkräftende Arbeit, ppo_291.017 wenn der Hundsstern wütete, und, entblättert ppo_291.018 vom Boreas, flammte dieß nutzbare Gebüsch in wohlthätigen ppo_291.019 Oefen, wenn der Winter das Thal mit Schnee ppo_291.020 füllte, und nun ein Nachbar zum andern schlich, um die ppo_291.021 langen müßigen Stunden durch schlaue Gespräche zu verkürzen. ppo_291.022 So lebten diese Hüttenbewohner ruhig und mit ppo_291.023 jeder Jahreszeit zufrieden. ppo_291.024 Nur der Pastor des Dorfes allein, der gelehrte Sebaldus, ppo_291.025 hatte seit vier unglücklichen Jahren die ländliche ppo_291.026 Munterkeit verloren, die auch sonst auf seiner offenen ppo_291.027 Stirne gezeichnet war. Ein geheimer Kummer peinigte ppo_291.028 sein Herz. Wenn er die ganze Woche hindurch in der ppo_291.029 Einsamkeit seiner verrußten Klause getrauert hatte; dann ppo_291.030 winselte er am Sonntage der schlafenden Gemeinde unleidliche ppo_291.031 Reden vor, und selbst bei dem theuer bezahlten ppo_291.032 Leichensermone verließ ihn seine sonst männliche Stimme.

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Zitationshilfe: Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/303>, abgerufen am 16.05.2024.