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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831.

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wohnende poetische Religion mehr ansprächen, und die
Moral nicht blos als Gebotnes, sondern als Schönes
und Nützliches, ja zum Glück des Einzelnen und
Aller Nothwendiges lehrten und erklärten. Würde
man von der Kanzel aus den gemeinen Mann nur
besser zu unterrichten, ihn zum Denken statt Glau-
ben
heranzubilden suchen, so würden die Laster bei
ihm bald seltner werden. Er würde anfangen, ein
wahres Interesse, ein Bedürfniß nach der Kirche und
Predigt zu seiner Bildung zu fühlen, während er jetzt
sie gewöhnlich aus nichts weniger als erbaulichen
Gründen, oder ohne alles Nachdenken besucht. Auch
die Gesetze des Landes, nicht blos die zehn Gebote,
sollten der Gemeinde von der Kanzel erläutert, und
ihnen mit den Gründen derselben zugleich geläufig
gemacht werden, denn wie Viele sündigen in dieser
Hinsicht, ohne, wie Christus sagt, zu wissen, was
sie thun *). Die beste praktische Vorschrift der all-
gemeinen Moral ist ohne Zweifel, sich zu fragen, ob
eine Handlung, wenn sie jeder beginge, der mensch-
lichen Gesellschaft schädlich oder nützlich sey? Im er-
sten Fall ist sie natürlich schlecht, im zweiten gut.

*) Freilich wäre es dann auch wünschenswerth, daß unsere Ge-
setze der Faßlichkeit des Volkes näher gerückt würden, daß
wir, statt hunderten verschiedener Provinzial- und Lokal-
rechte, ein Gesetzbuch für die ganze Monarchie hätten, so
daß nicht in einem Dorfe Recht sey, was zehn Meilen
davon Unrecht werde, und die P ... Juristen endlich Arbei-
ter in Bronze, statt Kesselflicker werden könnten.
A. d. H.

wohnende poetiſche Religion mehr anſprächen, und die
Moral nicht blos als Gebotnes, ſondern als Schönes
und Nützliches, ja zum Glück des Einzelnen und
Aller Nothwendiges lehrten und erklärten. Würde
man von der Kanzel aus den gemeinen Mann nur
beſſer zu unterrichten, ihn zum Denken ſtatt Glau-
ben
heranzubilden ſuchen, ſo würden die Laſter bei
ihm bald ſeltner werden. Er würde anfangen, ein
wahres Intereſſe, ein Bedürfniß nach der Kirche und
Predigt zu ſeiner Bildung zu fühlen, während er jetzt
ſie gewöhnlich aus nichts weniger als erbaulichen
Gründen, oder ohne alles Nachdenken beſucht. Auch
die Geſetze des Landes, nicht blos die zehn Gebote,
ſollten der Gemeinde von der Kanzel erläutert, und
ihnen mit den Gründen derſelben zugleich geläufig
gemacht werden, denn wie Viele ſündigen in dieſer
Hinſicht, ohne, wie Chriſtus ſagt, zu wiſſen, was
ſie thun *). Die beſte praktiſche Vorſchrift der all-
gemeinen Moral iſt ohne Zweifel, ſich zu fragen, ob
eine Handlung, wenn ſie jeder beginge, der menſch-
lichen Geſellſchaft ſchädlich oder nützlich ſey? Im er-
ſten Fall iſt ſie natürlich ſchlecht, im zweiten gut.

*) Freilich waͤre es dann auch wuͤnſchenswerth, daß unſere Ge-
ſetze der Faßlichkeit des Volkes naͤher geruͤckt wuͤrden, daß
wir, ſtatt hunderten verſchiedener Provinzial- und Lokal-
rechte, ein Geſetzbuch fuͤr die ganze Monarchie haͤtten, ſo
daß nicht in einem Dorfe Recht ſey, was zehn Meilen
davon Unrecht werde, und die P … Juriſten endlich Arbei-
ter in Bronze, ſtatt Keſſelflicker werden koͤnnten.
A. d. H.
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[366/0412] wohnende poetiſche Religion mehr anſprächen, und die Moral nicht blos als Gebotnes, ſondern als Schönes und Nützliches, ja zum Glück des Einzelnen und Aller Nothwendiges lehrten und erklärten. Würde man von der Kanzel aus den gemeinen Mann nur beſſer zu unterrichten, ihn zum Denken ſtatt Glau- ben heranzubilden ſuchen, ſo würden die Laſter bei ihm bald ſeltner werden. Er würde anfangen, ein wahres Intereſſe, ein Bedürfniß nach der Kirche und Predigt zu ſeiner Bildung zu fühlen, während er jetzt ſie gewöhnlich aus nichts weniger als erbaulichen Gründen, oder ohne alles Nachdenken beſucht. Auch die Geſetze des Landes, nicht blos die zehn Gebote, ſollten der Gemeinde von der Kanzel erläutert, und ihnen mit den Gründen derſelben zugleich geläufig gemacht werden, denn wie Viele ſündigen in dieſer Hinſicht, ohne, wie Chriſtus ſagt, zu wiſſen, was ſie thun *). Die beſte praktiſche Vorſchrift der all- gemeinen Moral iſt ohne Zweifel, ſich zu fragen, ob eine Handlung, wenn ſie jeder beginge, der menſch- lichen Geſellſchaft ſchädlich oder nützlich ſey? Im er- ſten Fall iſt ſie natürlich ſchlecht, im zweiten gut. *) Freilich waͤre es dann auch wuͤnſchenswerth, daß unſere Ge- ſetze der Faßlichkeit des Volkes naͤher geruͤckt wuͤrden, daß wir, ſtatt hunderten verſchiedener Provinzial- und Lokal- rechte, ein Geſetzbuch fuͤr die ganze Monarchie haͤtten, ſo daß nicht in einem Dorfe Recht ſey, was zehn Meilen davon Unrecht werde, und die P … Juriſten endlich Arbei- ter in Bronze, ſtatt Keſſelflicker werden koͤnnten. A. d. H.

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/412>, abgerufen am 29.04.2024.