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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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hinzu, welches aus fernem Land gekommen war, und
die Ueberschrift trug:

"Dieses kleine Briefelein kommt an die
Herzallerliebste in Herz und Liebe."

und schloß:
"... meiner Liebsten noch einen Gruß und Kuß und
"hoff ich zu kommen im Frühling mit den Schwal-
"ben und Hochzeit zu feiern freudiglich mit meinen
"Schatz, den grüßt und küßt in Gedankensinn sein
"herzlieber

Gottfried Karsten,
Tischlergeselle.

Oft, wenn der Wind die alte Wetterfahne knirschen
und kreischen läßt, mag sie wohl an das Blättchen im
Knopf darunter denken und an den, der's schrieb und
der nun auch schon so lange todt und begraben ist.

An wie manches Kindbett im Hause aber auch ist die
alte Margarethe Karsten gerufen und wie manches junge
Leben hat sie aufblühen sehen im Hause Nr. 7 in der
Sperlingsgasse.

Wer weiß so viel Wiegenlieder wie sie; wer weiß so
viel Märchen, die alle anfangen: "Es war einmal" und
damit enden, daß Jemand in ein Faß mit Nägeln und
Ottern gesteckt und den Berg herabgerollt wird? Wer

hinzu, welches aus fernem Land gekommen war, und
die Ueberſchrift trug:

„Dieſes kleine Briefelein kommt an die
Herzallerliebſte in Herz und Liebe.“

und ſchloß:
„… meiner Liebſten noch einen Gruß und Kuß und
„hoff ich zu kommen im Frühling mit den Schwal-
„ben und Hochzeit zu feiern freudiglich mit meinen
„Schatz, den grüßt und küßt in Gedankenſinn ſein
„herzlieber

Gottfried Karſten,
Tiſchlergeſelle.

Oft, wenn der Wind die alte Wetterfahne knirſchen
und kreiſchen läßt, mag ſie wohl an das Blättchen im
Knopf darunter denken und an den, der’s ſchrieb und
der nun auch ſchon ſo lange todt und begraben iſt.

An wie manches Kindbett im Hauſe aber auch iſt die
alte Margarethe Karſten gerufen und wie manches junge
Leben hat ſie aufblühen ſehen im Hauſe Nr. 7 in der
Sperlingsgaſſe.

Wer weiß ſo viel Wiegenlieder wie ſie; wer weiß ſo
viel Märchen, die alle anfangen: „Es war einmal“ und
damit enden, daß Jemand in ein Faß mit Nägeln und
Ottern geſteckt und den Berg herabgerollt wird? Wer

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[135/0145] hinzu, welches aus fernem Land gekommen war, und die Ueberſchrift trug: „Dieſes kleine Briefelein kommt an die Herzallerliebſte in Herz und Liebe.“ und ſchloß: „… meiner Liebſten noch einen Gruß und Kuß und „hoff ich zu kommen im Frühling mit den Schwal- „ben und Hochzeit zu feiern freudiglich mit meinen „Schatz, den grüßt und küßt in Gedankenſinn ſein „herzlieber Gottfried Karſten, Tiſchlergeſelle. Oft, wenn der Wind die alte Wetterfahne knirſchen und kreiſchen läßt, mag ſie wohl an das Blättchen im Knopf darunter denken und an den, der’s ſchrieb und der nun auch ſchon ſo lange todt und begraben iſt. An wie manches Kindbett im Hauſe aber auch iſt die alte Margarethe Karſten gerufen und wie manches junge Leben hat ſie aufblühen ſehen im Hauſe Nr. 7 in der Sperlingsgaſſe. Wer weiß ſo viel Wiegenlieder wie ſie; wer weiß ſo viel Märchen, die alle anfangen: „Es war einmal“ und damit enden, daß Jemand in ein Faß mit Nägeln und Ottern geſteckt und den Berg herabgerollt wird? Wer

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/145>, abgerufen am 30.04.2024.