Seite und ein stubengesichtiger junger Mann, dem ein Buch hinten aus der Rocktasche schaute, grub sorgsam eine Pflanze aus. Es war ein prächtiger Frühlings- Nachmittag. Da begannen auf einmal in der Stadt die Glocken zu läuten, den morgenden Sonntag zu ver- künden und wieder schwebte, von den "Himmelstönen" getragen, eine süße Erinnerung heran.
Es war auch ein erster Mai. Da war der Frühling gekommen mit jungem Grün, bauenden Schwalben und einem -- Hochzeitstage in der alten, dunklen Sperlings- Gasse. Sie hatten Blumen gestreut, und mit Blumen und Laubkränzen die Pfosten umwunden; sie hatten Sonn- tagskleider angezogen in der Sperlingsgasse, und Alle hatten fröhliche, fröhliche Gesichter. Und der Himmel war blau, und die Sonne schien strahlend durch das Epheu, welches vor so langen Jahren Marie Ralff im Ulfeldener Walde ausgegraben hatte; aber weder Him- melsblau noch Sonnenschein kamen an heiliger Reinheit dem Gesichtchen gleich, das sich an jenem ersten Mai an meine Schulter schmiegte und durch Thränen lächelnd zu mir aufschaute. Das Bild der Mutter sah aus seinem Rahmen und den Kränzen, die es heute umwan- den, ebenfalls lächelnd auf uns herab. Lächeln, Lächeln überall! Und als das junge Herzchen an meiner Brust pochte, auf der andern Seite Gustav mir den Arm
17
Seite und ein ſtubengeſichtiger junger Mann, dem ein Buch hinten aus der Rocktaſche ſchaute, grub ſorgſam eine Pflanze aus. Es war ein prächtiger Frühlings- Nachmittag. Da begannen auf einmal in der Stadt die Glocken zu läuten, den morgenden Sonntag zu ver- künden und wieder ſchwebte, von den „Himmelstönen“ getragen, eine ſüße Erinnerung heran.
Es war auch ein erſter Mai. Da war der Frühling gekommen mit jungem Grün, bauenden Schwalben und einem — Hochzeitstage in der alten, dunklen Sperlings- Gaſſe. Sie hatten Blumen geſtreut, und mit Blumen und Laubkränzen die Pfoſten umwunden; ſie hatten Sonn- tagskleider angezogen in der Sperlingsgaſſe, und Alle hatten fröhliche, fröhliche Geſichter. Und der Himmel war blau, und die Sonne ſchien ſtrahlend durch das Epheu, welches vor ſo langen Jahren Marie Ralff im Ulfeldener Walde ausgegraben hatte; aber weder Him- melsblau noch Sonnenſchein kamen an heiliger Reinheit dem Geſichtchen gleich, das ſich an jenem erſten Mai an meine Schulter ſchmiegte und durch Thränen lächelnd zu mir aufſchaute. Das Bild der Mutter ſah aus ſeinem Rahmen und den Kränzen, die es heute umwan- den, ebenfalls lächelnd auf uns herab. Lächeln, Lächeln überall! Und als das junge Herzchen an meiner Bruſt pochte, auf der andern Seite Guſtav mir den Arm
17
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0267"n="257"/>
Seite und ein ſtubengeſichtiger junger Mann, dem ein<lb/>
Buch hinten aus der Rocktaſche ſchaute, grub ſorgſam<lb/>
eine Pflanze aus. Es war ein prächtiger Frühlings-<lb/>
Nachmittag. Da begannen auf einmal in der Stadt<lb/>
die Glocken zu läuten, den morgenden Sonntag zu ver-<lb/>
künden und wieder ſchwebte, von den „Himmelstönen“<lb/>
getragen, eine ſüße Erinnerung heran.</p><lb/><p>Es war auch ein erſter Mai. Da war der Frühling<lb/>
gekommen mit jungem Grün, bauenden Schwalben und<lb/>
einem — Hochzeitstage in der alten, dunklen Sperlings-<lb/>
Gaſſe. Sie hatten Blumen geſtreut, und mit Blumen<lb/>
und Laubkränzen die Pfoſten umwunden; ſie hatten Sonn-<lb/>
tagskleider angezogen in der Sperlingsgaſſe, und Alle<lb/>
hatten fröhliche, fröhliche Geſichter. Und der Himmel<lb/>
war blau, und die Sonne ſchien ſtrahlend durch das<lb/>
Epheu, welches vor ſo langen Jahren Marie Ralff im<lb/>
Ulfeldener Walde ausgegraben hatte; aber weder Him-<lb/>
melsblau noch Sonnenſchein kamen an heiliger Reinheit<lb/>
dem Geſichtchen gleich, das ſich an jenem erſten Mai<lb/>
an meine Schulter ſchmiegte und durch Thränen lächelnd<lb/>
zu mir aufſchaute. Das Bild der Mutter ſah aus<lb/>ſeinem Rahmen und den Kränzen, die es heute umwan-<lb/>
den, ebenfalls lächelnd auf uns herab. Lächeln, Lächeln<lb/>
überall! Und als das junge Herzchen an meiner Bruſt<lb/>
pochte, auf der andern Seite Guſtav mir den Arm<lb/><fwplace="bottom"type="sig">17</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[257/0267]
Seite und ein ſtubengeſichtiger junger Mann, dem ein
Buch hinten aus der Rocktaſche ſchaute, grub ſorgſam
eine Pflanze aus. Es war ein prächtiger Frühlings-
Nachmittag. Da begannen auf einmal in der Stadt
die Glocken zu läuten, den morgenden Sonntag zu ver-
künden und wieder ſchwebte, von den „Himmelstönen“
getragen, eine ſüße Erinnerung heran.
Es war auch ein erſter Mai. Da war der Frühling
gekommen mit jungem Grün, bauenden Schwalben und
einem — Hochzeitstage in der alten, dunklen Sperlings-
Gaſſe. Sie hatten Blumen geſtreut, und mit Blumen
und Laubkränzen die Pfoſten umwunden; ſie hatten Sonn-
tagskleider angezogen in der Sperlingsgaſſe, und Alle
hatten fröhliche, fröhliche Geſichter. Und der Himmel
war blau, und die Sonne ſchien ſtrahlend durch das
Epheu, welches vor ſo langen Jahren Marie Ralff im
Ulfeldener Walde ausgegraben hatte; aber weder Him-
melsblau noch Sonnenſchein kamen an heiliger Reinheit
dem Geſichtchen gleich, das ſich an jenem erſten Mai
an meine Schulter ſchmiegte und durch Thränen lächelnd
zu mir aufſchaute. Das Bild der Mutter ſah aus
ſeinem Rahmen und den Kränzen, die es heute umwan-
den, ebenfalls lächelnd auf uns herab. Lächeln, Lächeln
überall! Und als das junge Herzchen an meiner Bruſt
pochte, auf der andern Seite Guſtav mir den Arm
17
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/267>, abgerufen am 28.04.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.