Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



zur gänzlichen Sättigung. Was unsrer guten Mo-
ral noch mehr Stärke giebt, macht, daß sie nicht,
wie, eurer Versicherung nach, bei den Europä-
ern, der Wilkühr einzelner Personen überlassen ist.
Bei unsrer Gleichheit, unsrer Gemeinschaft ist der
Gang unsrer Sittenlehre einförmig und öffentlich:
wir üben die Tugend alle zusammen aus: wir
weisen das Laster gemeinschaftlich ab; der Müssig-
gang, die Unbrauchbarkeit, die Ausschweifungen
in Lebensmitteln oder die Unmässigkeit, alles dies
wird bei uns unmöglich. Niemand kann sich in
einer öffentlichen Versamlung seiner Mitbürger über-
fressen: man genüßt blos das Nothdürftige. Diese
glückliche Gewohnheit hat unter uns fast alle Fresser
und Leckermäuler ausgerottet, die man auf den Jnseln
dieser Halbkugel an ihrem schwarzbraunen Munde
und Gesichtsfarbe erkent. Niemand wird Aus-
schweifungen mit seiner Frau begehn: ein Bruder
in der Mitte seiner Brüder, die ihre aufhabenden
Geschäfte verrichten, wird die seinigen nicht hin-
tenansetzen; er wird in einem Lande nicht müssig
herumstreichen, wo ieder Mensch zu einer Zeit be-
schäftigt ist: folglich sind unsere Sitten auf im-
mer gesichert; daher haben sie auch sanfter einge-
richtet werden müssen. Aus unsern Geschäften
und unsern Vergnügungen seht ihr, daß sie nicht
anders eingerichtet werden können. Jch wie-
derhole es noch einmal, Gleichheit schneidet allen
Lastern die Wurzel ab: keine Räuber, keine Mör-
der, keine Tagediebe, keine Verführer. Da bei
einem gleichen Volke die Spötterei leicht Misbräu-

che
Y 3



zur gaͤnzlichen Saͤttigung. Was unſrer guten Mo-
ral noch mehr Staͤrke giebt, macht, daß ſie nicht,
wie, eurer Verſicherung nach, bei den Europaͤ-
ern, der Wilkuͤhr einzelner Perſonen uͤberlaſſen iſt.
Bei unſrer Gleichheit, unſrer Gemeinſchaft iſt der
Gang unſrer Sittenlehre einfoͤrmig und oͤffentlich:
wir uͤben die Tugend alle zuſammen aus: wir
weiſen das Laſter gemeinſchaftlich ab; der Muͤſſig-
gang, die Unbrauchbarkeit, die Ausſchweifungen
in Lebensmitteln oder die Unmaͤſſigkeit, alles dies
wird bei uns unmoͤglich. Niemand kann ſich in
einer oͤffentlichen Verſamlung ſeiner Mitbuͤrger uͤber-
freſſen: man genuͤßt blos das Nothduͤrftige. Dieſe
gluͤckliche Gewohnheit hat unter uns faſt alle Freſſer
und Leckermaͤuler ausgerottet, die man auf den Jnſeln
dieſer Halbkugel an ihrem ſchwarzbraunen Munde
und Geſichtsfarbe erkent. Niemand wird Aus-
ſchweifungen mit ſeiner Frau begehn: ein Bruder
in der Mitte ſeiner Bruͤder, die ihre aufhabenden
Geſchaͤfte verrichten, wird die ſeinigen nicht hin-
tenanſetzen; er wird in einem Lande nicht muͤſſig
herumſtreichen, wo ieder Menſch zu einer Zeit be-
ſchaͤftigt iſt: folglich ſind unſere Sitten auf im-
mer geſichert; daher haben ſie auch ſanfter einge-
richtet werden muͤſſen. Aus unſern Geſchaͤften
und unſern Vergnuͤgungen ſeht ihr, daß ſie nicht
anders eingerichtet werden koͤnnen. Jch wie-
derhole es noch einmal, Gleichheit ſchneidet allen
Laſtern die Wurzel ab: keine Raͤuber, keine Moͤr-
der, keine Tagediebe, keine Verfuͤhrer. Da bei
einem gleichen Volke die Spoͤtterei leicht Misbraͤu-

che
Y 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0349" n="341"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
zur ga&#x0364;nzlichen Sa&#x0364;ttigung. Was un&#x017F;rer guten Mo-<lb/>
ral noch mehr Sta&#x0364;rke giebt, macht, daß &#x017F;ie nicht,<lb/>
wie, eurer Ver&#x017F;icherung nach, bei den Europa&#x0364;-<lb/>
ern, der Wilku&#x0364;hr einzelner Per&#x017F;onen u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t.<lb/>
Bei un&#x017F;rer Gleichheit, un&#x017F;rer Gemein&#x017F;chaft i&#x017F;t der<lb/>
Gang un&#x017F;rer Sittenlehre einfo&#x0364;rmig und o&#x0364;ffentlich:<lb/>
wir u&#x0364;ben die Tugend alle zu&#x017F;ammen aus: wir<lb/>
wei&#x017F;en das La&#x017F;ter gemein&#x017F;chaftlich ab; der Mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig-<lb/>
gang, die Unbrauchbarkeit, die Aus&#x017F;chweifungen<lb/>
in Lebensmitteln oder die Unma&#x0364;&#x017F;&#x017F;igkeit, alles dies<lb/>
wird bei uns unmo&#x0364;glich. Niemand kann &#x017F;ich in<lb/>
einer o&#x0364;ffentlichen Ver&#x017F;amlung &#x017F;einer Mitbu&#x0364;rger u&#x0364;ber-<lb/>
fre&#x017F;&#x017F;en: man genu&#x0364;ßt blos das Nothdu&#x0364;rftige. Die&#x017F;e<lb/>
glu&#x0364;ckliche Gewohnheit hat unter uns fa&#x017F;t alle Fre&#x017F;&#x017F;er<lb/>
und Leckerma&#x0364;uler ausgerottet, die man auf den Jn&#x017F;eln<lb/>
die&#x017F;er Halbkugel an ihrem &#x017F;chwarzbraunen Munde<lb/>
und Ge&#x017F;ichtsfarbe erkent. Niemand wird Aus-<lb/>
&#x017F;chweifungen mit &#x017F;einer Frau begehn: ein Bruder<lb/>
in der Mitte &#x017F;einer Bru&#x0364;der, die ihre aufhabenden<lb/>
Ge&#x017F;cha&#x0364;fte verrichten, wird die &#x017F;einigen nicht hin-<lb/>
tenan&#x017F;etzen; er wird in einem Lande nicht mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig<lb/>
herum&#x017F;treichen, wo ieder Men&#x017F;ch zu einer Zeit be-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ftigt i&#x017F;t: folglich &#x017F;ind un&#x017F;ere Sitten auf im-<lb/>
mer ge&#x017F;ichert; daher haben &#x017F;ie auch &#x017F;anfter einge-<lb/>
richtet werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Aus un&#x017F;ern Ge&#x017F;cha&#x0364;ften<lb/>
und un&#x017F;ern Vergnu&#x0364;gungen &#x017F;eht ihr, daß &#x017F;ie nicht<lb/>
anders eingerichtet werden ko&#x0364;nnen. Jch wie-<lb/>
derhole es noch einmal, Gleichheit &#x017F;chneidet allen<lb/>
La&#x017F;tern die Wurzel ab: keine Ra&#x0364;uber, keine Mo&#x0364;r-<lb/>
der, keine Tagediebe, keine Verfu&#x0364;hrer. Da bei<lb/>
einem gleichen Volke die Spo&#x0364;tterei leicht Misbra&#x0364;u-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Y 3</fw><fw place="bottom" type="catch">che</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[341/0349] zur gaͤnzlichen Saͤttigung. Was unſrer guten Mo- ral noch mehr Staͤrke giebt, macht, daß ſie nicht, wie, eurer Verſicherung nach, bei den Europaͤ- ern, der Wilkuͤhr einzelner Perſonen uͤberlaſſen iſt. Bei unſrer Gleichheit, unſrer Gemeinſchaft iſt der Gang unſrer Sittenlehre einfoͤrmig und oͤffentlich: wir uͤben die Tugend alle zuſammen aus: wir weiſen das Laſter gemeinſchaftlich ab; der Muͤſſig- gang, die Unbrauchbarkeit, die Ausſchweifungen in Lebensmitteln oder die Unmaͤſſigkeit, alles dies wird bei uns unmoͤglich. Niemand kann ſich in einer oͤffentlichen Verſamlung ſeiner Mitbuͤrger uͤber- freſſen: man genuͤßt blos das Nothduͤrftige. Dieſe gluͤckliche Gewohnheit hat unter uns faſt alle Freſſer und Leckermaͤuler ausgerottet, die man auf den Jnſeln dieſer Halbkugel an ihrem ſchwarzbraunen Munde und Geſichtsfarbe erkent. Niemand wird Aus- ſchweifungen mit ſeiner Frau begehn: ein Bruder in der Mitte ſeiner Bruͤder, die ihre aufhabenden Geſchaͤfte verrichten, wird die ſeinigen nicht hin- tenanſetzen; er wird in einem Lande nicht muͤſſig herumſtreichen, wo ieder Menſch zu einer Zeit be- ſchaͤftigt iſt: folglich ſind unſere Sitten auf im- mer geſichert; daher haben ſie auch ſanfter einge- richtet werden muͤſſen. Aus unſern Geſchaͤften und unſern Vergnuͤgungen ſeht ihr, daß ſie nicht anders eingerichtet werden koͤnnen. Jch wie- derhole es noch einmal, Gleichheit ſchneidet allen Laſtern die Wurzel ab: keine Raͤuber, keine Moͤr- der, keine Tagediebe, keine Verfuͤhrer. Da bei einem gleichen Volke die Spoͤtterei leicht Misbraͤu- che Y 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/349
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/349>, abgerufen am 09.06.2024.