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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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gödie sehr genau unterrichtet wären; dies ist indessen keines-
wegs der Fall. Die verbreitete Vorstellung von dem Inhalt des
sophokleischen Laokoon beruht vielmehr einzig auf der zuerst
von Heyne ausgesprochenen und von Welcker acceptierten An-
nahme, dass uns Hygin fab. 135 die Hypothesis dieser Tragödie
überliefere. "Dass Hygin den Inhalt der sophokleischen Tragödie
wiedergebe", sagt Overbeck Plastik II2 S. 237, "ist noch nicht
bestritten worden, geschweige denn widerlegt". Ja, aber auch
noch nie bewiesen; denn wenn auch ein Teil der Hyginschen
Fabeln teils eigentliche upotheseis, teils aus solchen abgeleitet
sind, so gilt dies doch keineswegs von allen und muss in jedem
einzelnen Fall besonders bewiesen werden. Hygins Erzählung 2)
lautet: Laocoon Capyos 3) filius Anchisae frater Apollinis sacer-
dos contra voluntatem Apollinis cum uxorem duxisset atque
liberos procreasset, sorte ductus ut sacrum faceret Nep-
tuno ad litus
, Apollo occasione data a Tenedo per fluctus
maris
dracones misit duos, qui filios eius Antiphatem et
Thymbraeum necarent; quibus Laocoon cum auxilium
ferre vellet, ipsum quoque nexum necaverunt. quod
Phryges idcirco factum putarunt, quod Laocoon
hastam in equum Troianum miserit
. Die letzten beiden
Sätze stimmen nach Inhalt und Fassung in auffälliger Weise mit
Vergil Aen. II 216 überein:

2) Sehr merkwürdig ist die Stelle, die Hygin der Laokoonfabel gegeben
hat; sie steht nicht etwa mit den übrigen troischen Sagen zusammen, sondern
hinter den Abenteuern des Dionysos und vor der Geschichte des Polyeidos.
Für letztere Zusammenstellung war vielleicht der Umstand massgebend, dass
in beiden Erzählungen zwei Schlangen die Hauptrolle spielen, und zwar
-- wenn wir annehmen dürfen, dass die Laokoonfabel in dem ursprünglichen
Werk ausführlicher erzählt war -- beide Male eine männliche und eine weib-
liche Schlange.
3) Acoetis Micyllus; dieser Name ist aus der vorhergehenden Fabel 133
(Tyrrheni), wo der Steuermann so heisst, hier aus Versehen wiederholt; man
hätte also an sich völlige Freiheit, jeden anderen Namen einzusetzen; aber
die Worte Anchisae pater zwingen mit unabweisbarer Notwendigkeit, nach
Munckers Vorgang Capyos zu schreiben.

gödie sehr genau unterrichtet wären; dies ist indessen keines-
wegs der Fall. Die verbreitete Vorstellung von dem Inhalt des
sophokleischen Laokoon beruht vielmehr einzig auf der zuerst
von Heyne ausgesprochenen und von Welcker acceptierten An-
nahme, daſs uns Hygin fab. 135 die Hypothesis dieser Tragödie
überliefere. „Daſs Hygin den Inhalt der sophokleischen Tragödie
wiedergebe“, sagt Overbeck Plastik II2 S. 237, „ist noch nicht
bestritten worden, geschweige denn widerlegt“. Ja, aber auch
noch nie bewiesen; denn wenn auch ein Teil der Hyginschen
Fabeln teils eigentliche ὑποϑέσεις, teils aus solchen abgeleitet
sind, so gilt dies doch keineswegs von allen und muſs in jedem
einzelnen Fall besonders bewiesen werden. Hygins Erzählung 2)
lautet: Laocoon Capyos 3) filius Anchisae frater Apollinis sacer-
dos contra voluntatem Apollinis cum uxorem duxisset atque
liberos procreasset, sorte ductus ut sacrum faceret Nep-
tuno ad litus
, Apollo occasione data a Tenedo per fluctus
maris
dracones misit duos, qui filios eius Antiphatem et
Thymbraeum necarent; quibus Laocoon cum auxilium
ferre vellet, ipsum quoque nexum necaverunt. quod
Phryges idcirco factum putarunt, quod Laocoon
hastam in equum Troianum miserit
. Die letzten beiden
Sätze stimmen nach Inhalt und Fassung in auffälliger Weise mit
Vergil Aen. II 216 überein:

2) Sehr merkwürdig ist die Stelle, die Hygin der Laokoonfabel gegeben
hat; sie steht nicht etwa mit den übrigen troischen Sagen zusammen, sondern
hinter den Abenteuern des Dionysos und vor der Geschichte des Polyeidos.
Für letztere Zusammenstellung war vielleicht der Umstand maſsgebend, daſs
in beiden Erzählungen zwei Schlangen die Hauptrolle spielen, und zwar
— wenn wir annehmen dürfen, daſs die Laokoonfabel in dem ursprünglichen
Werk ausführlicher erzählt war — beide Male eine männliche und eine weib-
liche Schlange.
3) Acoetis Micyllus; dieser Name ist aus der vorhergehenden Fabel 133
(Tyrrheni), wo der Steuermann so heiſst, hier aus Versehen wiederholt; man
hätte also an sich völlige Freiheit, jeden anderen Namen einzusetzen; aber
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[194/0208] gödie sehr genau unterrichtet wären; dies ist indessen keines- wegs der Fall. Die verbreitete Vorstellung von dem Inhalt des sophokleischen Laokoon beruht vielmehr einzig auf der zuerst von Heyne ausgesprochenen und von Welcker acceptierten An- nahme, daſs uns Hygin fab. 135 die Hypothesis dieser Tragödie überliefere. „Daſs Hygin den Inhalt der sophokleischen Tragödie wiedergebe“, sagt Overbeck Plastik II2 S. 237, „ist noch nicht bestritten worden, geschweige denn widerlegt“. Ja, aber auch noch nie bewiesen; denn wenn auch ein Teil der Hyginschen Fabeln teils eigentliche ὑποϑέσεις, teils aus solchen abgeleitet sind, so gilt dies doch keineswegs von allen und muſs in jedem einzelnen Fall besonders bewiesen werden. Hygins Erzählung 2) lautet: Laocoon Capyos 3) filius Anchisae frater Apollinis sacer- dos contra voluntatem Apollinis cum uxorem duxisset atque liberos procreasset, sorte ductus ut sacrum faceret Nep- tuno ad litus, Apollo occasione data a Tenedo per fluctus maris dracones misit duos, qui filios eius Antiphatem et Thymbraeum necarent; quibus Laocoon cum auxilium ferre vellet, ipsum quoque nexum necaverunt. quod Phryges idcirco factum putarunt, quod Laocoon hastam in equum Troianum miserit. Die letzten beiden Sätze stimmen nach Inhalt und Fassung in auffälliger Weise mit Vergil Aen. II 216 überein: 2) Sehr merkwürdig ist die Stelle, die Hygin der Laokoonfabel gegeben hat; sie steht nicht etwa mit den übrigen troischen Sagen zusammen, sondern hinter den Abenteuern des Dionysos und vor der Geschichte des Polyeidos. Für letztere Zusammenstellung war vielleicht der Umstand maſsgebend, daſs in beiden Erzählungen zwei Schlangen die Hauptrolle spielen, und zwar — wenn wir annehmen dürfen, daſs die Laokoonfabel in dem ursprünglichen Werk ausführlicher erzählt war — beide Male eine männliche und eine weib- liche Schlange. 3) Acoetis Micyllus; dieser Name ist aus der vorhergehenden Fabel 133 (Tyrrheni), wo der Steuermann so heiſst, hier aus Versehen wiederholt; man hätte also an sich völlige Freiheit, jeden anderen Namen einzusetzen; aber die Worte Anchisae pater zwingen mit unabweisbarer Notwendigkeit, nach Munckers Vorgang Capyos zu schreiben.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/208>, abgerufen am 27.04.2024.