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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

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Saiten, auf daß ich die Gespenster wieder ver-
scheuche.

Und die Saiten, die wissen mir besseren
Trost; sie flüstern, ich möge zufrieden sein, ich hätte
das Glück gehabt, ersprießlich für das Allgemeine
zu arbeiten; ich hätte den Hang, stets der Voll-
kommenheit meines eigenen Wesens zuzustreben; ich
hätte die Herrlichkeit der Schöpfung um mich, ich
hätte die Geister aller großen Menschen in meinen
Büchern versammelt. Ich würde noch Manches nach
meinen Kräften wirken und dereinst mit Befrie-
digung die Augen schließen.



Ich habe mir wieder, wie seiner Tage ein-
mal, aber ernstlicher vorgenommen, in meinen freien
Stunden des Sommers mich mit der Pflanzenwelt
abzugeben, sie wissenschaftlich zu zerlegen und zu
betrachten. Aber wie geht es mir dabei? Da habe
ich heute ein Pflänzlein gefunden, gepflückt und hier
auf meine Mappe gelegt.

Mich reut der Mord. Es ist so frisch und
hold gestanden am Rain und hat seine kleinen
Arme ausgestreckt, den lieben Sonnenschein zu
umarmen. O, zürne mir nicht, du liebholdes Wesen,
du bist in deiner Jugend gestorben, es hat dir ein

Saiten, auf daß ich die Geſpenſter wieder ver-
ſcheuche.

Und die Saiten, die wiſſen mir beſſeren
Troſt; ſie flüſtern, ich möge zufrieden ſein, ich hätte
das Glück gehabt, erſprießlich für das Allgemeine
zu arbeiten; ich hätte den Hang, ſtets der Voll-
kommenheit meines eigenen Weſens zuzuſtreben; ich
hätte die Herrlichkeit der Schöpfung um mich, ich
hätte die Geiſter aller großen Menſchen in meinen
Büchern verſammelt. Ich würde noch Manches nach
meinen Kräften wirken und dereinſt mit Befrie-
digung die Augen ſchließen.



Ich habe mir wieder, wie ſeiner Tage ein-
mal, aber ernſtlicher vorgenommen, in meinen freien
Stunden des Sommers mich mit der Pflanzenwelt
abzugeben, ſie wiſſenſchaftlich zu zerlegen und zu
betrachten. Aber wie geht es mir dabei? Da habe
ich heute ein Pflänzlein gefunden, gepflückt und hier
auf meine Mappe gelegt.

Mich reut der Mord. Es iſt ſo friſch und
hold geſtanden am Rain und hat ſeine kleinen
Arme ausgeſtreckt, den lieben Sonnenſchein zu
umarmen. O, zürne mir nicht, du liebholdes Weſen,
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[396/0406] Saiten, auf daß ich die Geſpenſter wieder ver- ſcheuche. Und die Saiten, die wiſſen mir beſſeren Troſt; ſie flüſtern, ich möge zufrieden ſein, ich hätte das Glück gehabt, erſprießlich für das Allgemeine zu arbeiten; ich hätte den Hang, ſtets der Voll- kommenheit meines eigenen Weſens zuzuſtreben; ich hätte die Herrlichkeit der Schöpfung um mich, ich hätte die Geiſter aller großen Menſchen in meinen Büchern verſammelt. Ich würde noch Manches nach meinen Kräften wirken und dereinſt mit Befrie- digung die Augen ſchließen. Ich habe mir wieder, wie ſeiner Tage ein- mal, aber ernſtlicher vorgenommen, in meinen freien Stunden des Sommers mich mit der Pflanzenwelt abzugeben, ſie wiſſenſchaftlich zu zerlegen und zu betrachten. Aber wie geht es mir dabei? Da habe ich heute ein Pflänzlein gefunden, gepflückt und hier auf meine Mappe gelegt. Mich reut der Mord. Es iſt ſo friſch und hold geſtanden am Rain und hat ſeine kleinen Arme ausgeſtreckt, den lieben Sonnenſchein zu umarmen. O, zürne mir nicht, du liebholdes Weſen, du biſt in deiner Jugend geſtorben, es hat dir ein

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Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/406>, abgerufen am 30.04.2024.