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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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Blättchen darin zur Zeit noch untergebracht sind, und wenn wir dann
von dem ersten Anschwellen der Knospe an, dem bald ein Anseinander-
treten der Schuppen folgt, Schritt für Schritt der stündlich zunehmenden
Entfaltung und Gestaltung folgen. Wir lernen dabei die Verschieden-
heiten der Knospenfaltung kennen (S. 66) und sehen, wie die Knospen-
schuppen sich bei manchen Baumarten verwandtschaftlich zu den hinfälligen
Nebenblättern verhalten. Wir sehen, wie die einen Bäume zuerst nur
die Blüthenknospen entfalten, was uns bisher vielleicht entging, weil wir
an einem Baume keine Blüthen zu suchen gewöhnt waren, der noch keine
Blätter hat, obgleich schon der Aprikosenbaum und der Schlehdorn uns
vom Gegentheile belehren wollen.

Doch wir wollen das Leben des Baumes nicht an den Wandlungen
während eines Jahreslaufes betrachten, weil uns das darüber unbelehrt
lassen würde, wie der Baum bis dahin gediehen sei, wo wir diese Be-
trachtung beginnen. Wir verfolgen daher lieber die Entstehung eines
Baumes aus einem Samenkorn und haben dabei Veranlassung, zunächst
den Bau eines Samenkorns zu untersuchen, um zu sehen, welche von
ihm die Theile seien, aus denen das junge Bäumchen hervorgeht.

Wer den Bau einer Eichel nicht kennen sollte, der kennt wenigstens
den einer Mandel oder eines Kürbis- oder Bohnenkernes oder einer
Erbse, bei denen allen die Verhältnisse, um die es sich uns jetzt handelt,
genau so sind wie in der Eichel und wie bei den meisten Waldsämereien.

Wenn wir uns recht genau von dem Bau der genannten Samen-
arten unterrichten wollen, so legen wir sie etwa eine halbe Stunde in heißes
Wasser, worauf alsdann die äußere Samenhaut weich geworden sein und
sich leicht abstreifen lassen wird. Indem wir dies thun haben wir uns
in Acht zu nehmen, daß der enthäutete Same nicht von selbst in zwei
halbkugliche (bei der Erbse) oder halbeiförmige (bei der Eiche) Hälften
zerfalle, denn sie hängen nur an einer kleinen Stelle mit einander zu-
sammen, und gerade diese kleine Stelle ist das Wesentliche des Samen-
korns: der Keim oder Embryo.

Obgleich die Bohne nicht zu den deutschen Waldbäumen gehört, ja
wir nicht einmal eine Familienverwandte von ihr unter diesen haben, so
wähle ich doch einen Bohenkern zur Erläuterung des Keimens, weil ein
Bohnenkern für Jederman viel leichter zu haben ist, als eine Eichel oder

Blättchen darin zur Zeit noch untergebracht ſind, und wenn wir dann
von dem erſten Anſchwellen der Knospe an, dem bald ein Anseinander-
treten der Schuppen folgt, Schritt für Schritt der ſtündlich zunehmenden
Entfaltung und Geſtaltung folgen. Wir lernen dabei die Verſchieden-
heiten der Knospenfaltung kennen (S. 66) und ſehen, wie die Knospen-
ſchuppen ſich bei manchen Baumarten verwandtſchaftlich zu den hinfälligen
Nebenblättern verhalten. Wir ſehen, wie die einen Bäume zuerſt nur
die Blüthenknospen entfalten, was uns bisher vielleicht entging, weil wir
an einem Baume keine Blüthen zu ſuchen gewöhnt waren, der noch keine
Blätter hat, obgleich ſchon der Aprikoſenbaum und der Schlehdorn uns
vom Gegentheile belehren wollen.

Doch wir wollen das Leben des Baumes nicht an den Wandlungen
während eines Jahreslaufes betrachten, weil uns das darüber unbelehrt
laſſen würde, wie der Baum bis dahin gediehen ſei, wo wir dieſe Be-
trachtung beginnen. Wir verfolgen daher lieber die Entſtehung eines
Baumes aus einem Samenkorn und haben dabei Veranlaſſung, zunächſt
den Bau eines Samenkorns zu unterſuchen, um zu ſehen, welche von
ihm die Theile ſeien, aus denen das junge Bäumchen hervorgeht.

Wer den Bau einer Eichel nicht kennen ſollte, der kennt wenigſtens
den einer Mandel oder eines Kürbis- oder Bohnenkernes oder einer
Erbſe, bei denen allen die Verhältniſſe, um die es ſich uns jetzt handelt,
genau ſo ſind wie in der Eichel und wie bei den meiſten Waldſämereien.

Wenn wir uns recht genau von dem Bau der genannten Samen-
arten unterrichten wollen, ſo legen wir ſie etwa eine halbe Stunde in heißes
Waſſer, worauf alsdann die äußere Samenhaut weich geworden ſein und
ſich leicht abſtreifen laſſen wird. Indem wir dies thun haben wir uns
in Acht zu nehmen, daß der enthäutete Same nicht von ſelbſt in zwei
halbkugliche (bei der Erbſe) oder halbeiförmige (bei der Eiche) Hälften
zerfalle, denn ſie hängen nur an einer kleinen Stelle mit einander zu-
ſammen, und gerade dieſe kleine Stelle iſt das Weſentliche des Samen-
korns: der Keim oder Embryo.

Obgleich die Bohne nicht zu den deutſchen Waldbäumen gehört, ja
wir nicht einmal eine Familienverwandte von ihr unter dieſen haben, ſo
wähle ich doch einen Bohenkern zur Erläuterung des Keimens, weil ein
Bohnenkern für Jederman viel leichter zu haben iſt, als eine Eichel oder

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[132/0156] Blättchen darin zur Zeit noch untergebracht ſind, und wenn wir dann von dem erſten Anſchwellen der Knospe an, dem bald ein Anseinander- treten der Schuppen folgt, Schritt für Schritt der ſtündlich zunehmenden Entfaltung und Geſtaltung folgen. Wir lernen dabei die Verſchieden- heiten der Knospenfaltung kennen (S. 66) und ſehen, wie die Knospen- ſchuppen ſich bei manchen Baumarten verwandtſchaftlich zu den hinfälligen Nebenblättern verhalten. Wir ſehen, wie die einen Bäume zuerſt nur die Blüthenknospen entfalten, was uns bisher vielleicht entging, weil wir an einem Baume keine Blüthen zu ſuchen gewöhnt waren, der noch keine Blätter hat, obgleich ſchon der Aprikoſenbaum und der Schlehdorn uns vom Gegentheile belehren wollen. Doch wir wollen das Leben des Baumes nicht an den Wandlungen während eines Jahreslaufes betrachten, weil uns das darüber unbelehrt laſſen würde, wie der Baum bis dahin gediehen ſei, wo wir dieſe Be- trachtung beginnen. Wir verfolgen daher lieber die Entſtehung eines Baumes aus einem Samenkorn und haben dabei Veranlaſſung, zunächſt den Bau eines Samenkorns zu unterſuchen, um zu ſehen, welche von ihm die Theile ſeien, aus denen das junge Bäumchen hervorgeht. Wer den Bau einer Eichel nicht kennen ſollte, der kennt wenigſtens den einer Mandel oder eines Kürbis- oder Bohnenkernes oder einer Erbſe, bei denen allen die Verhältniſſe, um die es ſich uns jetzt handelt, genau ſo ſind wie in der Eichel und wie bei den meiſten Waldſämereien. Wenn wir uns recht genau von dem Bau der genannten Samen- arten unterrichten wollen, ſo legen wir ſie etwa eine halbe Stunde in heißes Waſſer, worauf alsdann die äußere Samenhaut weich geworden ſein und ſich leicht abſtreifen laſſen wird. Indem wir dies thun haben wir uns in Acht zu nehmen, daß der enthäutete Same nicht von ſelbſt in zwei halbkugliche (bei der Erbſe) oder halbeiförmige (bei der Eiche) Hälften zerfalle, denn ſie hängen nur an einer kleinen Stelle mit einander zu- ſammen, und gerade dieſe kleine Stelle iſt das Weſentliche des Samen- korns: der Keim oder Embryo. Obgleich die Bohne nicht zu den deutſchen Waldbäumen gehört, ja wir nicht einmal eine Familienverwandte von ihr unter dieſen haben, ſo wähle ich doch einen Bohenkern zur Erläuterung des Keimens, weil ein Bohnenkern für Jederman viel leichter zu haben iſt, als eine Eichel oder

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/156>, abgerufen am 27.04.2024.