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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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3.
Der Baum.
Wenn man einen Baum als ein Aggregat von eben
so vielen verbundenen Individuen hält als er
Knospen an seiner Oberfläche entwickelt hat, so
kann man nicht darüber staunen, indem ohne
Unterlaß neue Knospen auf die früheren folgen,
daß das sich ergebende Aggregat keinen nothwen-
digen Endpunkt seines Bestehens hat.

Decandolle.

In der Betrachtung der uns umgebenden Natur, auch wenn sie noch
keine Verständnißsuchende ist, fühlen wir dennoch das Bedürfniß nach
Ruhepunkten, damit das Chaotische in der Formenwelt uns nicht unbe-
haglich werde, wie uns der Eintritt in einen großen Bildersaal unbehaglich
wird, wo wir nicht wissen, wohin wir zunächst blicken sollen, und wo
unser verblüfftes Auge leicht auf dem Unbedeutenden haftet.

In dem großen Bildersaal, welcher die uns umgebende Natur ist,
sind solche Ruhepunkte, wo sie der menschliche Eingriff nicht verwischt hat,
fast überall vorhanden: die unendliche Manchfaltigkeit der Gestaltungen
zeigt sich durch Vertheilung und Verhältnisse gegliedert, und es ist so
unserem Auge Unbehaglichkeit und Ermüdung erspart. Der starre Träger
des Lebens, der flüssige Vermittler desselben und des Lebens zwei Er-
scheinungsformen, Pflanze und Thier, sind diese Ruhepunkte, die jeder
wieder in den verschiedensten Formen auftreten, sich hundertfach verviel-
fältigen.

Es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß die Pflanze, wie wir uns
bereits daran erinnerten, das Meiste dazu beiträgt, die bewohnbaren
Gebiete der Erdoberfläche zu schmücken; in unübersehbarer Vervielfältigung
webt sie den Schooß, in welchem das Thier sich geborgen fühlt; und schon

3.
Der Baum.
Wenn man einen Baum als ein Aggregat von eben
ſo vielen verbundenen Individuen hält als er
Knospen an ſeiner Oberfläche entwickelt hat, ſo
kann man nicht darüber ſtaunen, indem ohne
Unterlaß neue Knospen auf die früheren folgen,
daß das ſich ergebende Aggregat keinen nothwen-
digen Endpunkt ſeines Beſtehens hat.

Decandolle.

In der Betrachtung der uns umgebenden Natur, auch wenn ſie noch
keine Verſtändnißſuchende iſt, fühlen wir dennoch das Bedürfniß nach
Ruhepunkten, damit das Chaotiſche in der Formenwelt uns nicht unbe-
haglich werde, wie uns der Eintritt in einen großen Bilderſaal unbehaglich
wird, wo wir nicht wiſſen, wohin wir zunächſt blicken ſollen, und wo
unſer verblüfftes Auge leicht auf dem Unbedeutenden haftet.

In dem großen Bilderſaal, welcher die uns umgebende Natur iſt,
ſind ſolche Ruhepunkte, wo ſie der menſchliche Eingriff nicht verwiſcht hat,
faſt überall vorhanden: die unendliche Manchfaltigkeit der Geſtaltungen
zeigt ſich durch Vertheilung und Verhältniſſe gegliedert, und es iſt ſo
unſerem Auge Unbehaglichkeit und Ermüdung erſpart. Der ſtarre Träger
des Lebens, der flüſſige Vermittler deſſelben und des Lebens zwei Er-
ſcheinungsformen, Pflanze und Thier, ſind dieſe Ruhepunkte, die jeder
wieder in den verſchiedenſten Formen auftreten, ſich hundertfach verviel-
fältigen.

Es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß die Pflanze, wie wir uns
bereits daran erinnerten, das Meiſte dazu beiträgt, die bewohnbaren
Gebiete der Erdoberfläche zu ſchmücken; in unüberſehbarer Vervielfältigung
webt ſie den Schooß, in welchem das Thier ſich geborgen fühlt; und ſchon

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[[12]/0036] 3. Der Baum. Wenn man einen Baum als ein Aggregat von eben ſo vielen verbundenen Individuen hält als er Knospen an ſeiner Oberfläche entwickelt hat, ſo kann man nicht darüber ſtaunen, indem ohne Unterlaß neue Knospen auf die früheren folgen, daß das ſich ergebende Aggregat keinen nothwen- digen Endpunkt ſeines Beſtehens hat. Decandolle. In der Betrachtung der uns umgebenden Natur, auch wenn ſie noch keine Verſtändnißſuchende iſt, fühlen wir dennoch das Bedürfniß nach Ruhepunkten, damit das Chaotiſche in der Formenwelt uns nicht unbe- haglich werde, wie uns der Eintritt in einen großen Bilderſaal unbehaglich wird, wo wir nicht wiſſen, wohin wir zunächſt blicken ſollen, und wo unſer verblüfftes Auge leicht auf dem Unbedeutenden haftet. In dem großen Bilderſaal, welcher die uns umgebende Natur iſt, ſind ſolche Ruhepunkte, wo ſie der menſchliche Eingriff nicht verwiſcht hat, faſt überall vorhanden: die unendliche Manchfaltigkeit der Geſtaltungen zeigt ſich durch Vertheilung und Verhältniſſe gegliedert, und es iſt ſo unſerem Auge Unbehaglichkeit und Ermüdung erſpart. Der ſtarre Träger des Lebens, der flüſſige Vermittler deſſelben und des Lebens zwei Er- ſcheinungsformen, Pflanze und Thier, ſind dieſe Ruhepunkte, die jeder wieder in den verſchiedenſten Formen auftreten, ſich hundertfach verviel- fältigen. Es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß die Pflanze, wie wir uns bereits daran erinnerten, das Meiſte dazu beiträgt, die bewohnbaren Gebiete der Erdoberfläche zu ſchmücken; in unüberſehbarer Vervielfältigung webt ſie den Schooß, in welchem das Thier ſich geborgen fühlt; und ſchon

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. [12]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/36>, abgerufen am 27.04.2024.