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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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diese nahe Beziehung zu einander mußte mit Nothwendigkeit zu einem
vergleichenden Blick auf beide, zu einer scharfen Unterscheidung beider hin-
drängen.

Die im ganzen Pflanzenreiche sich aussprechende Unbegrenztheit wieder-
holt sich mit mehr oder weniger Bestimmtheit an der einzelnen Pflanze.
Wir können eine Pflanze nicht mit derselben Schärfe und Abgeschlossenheit
ein Individuum, ein Einzelwesen, nennen, von dem wir sagen könnten, es
ist fertig, es kann ihm nichts genommen, nichts hinzugefügt oder wenigstens
hinzugefügt gedacht werden, wie wir das Thier in solchem Sinne ein
Individuum nennen können. Das kleinste Insekt, sobald es seine Ver-
wandlungszustände durchlaufen hat, ist ein fertiger, abgeschlossener Körper,
dem wir kein Theilchen rauben können, ohne seinen leiblichen Bestand zu
stören, von dem wir ebenso bestimmt wissen, daß es nicht größer wird,
daß ihm kein neuer Theil mehr zuwächst.

Von welcher Pflanze können wir dies sagen? Wann ist ein Hyacinthen-
stock fertig? Wie viel Blätter und Blüthen muß er haben, um es zu sein?
Wenn wir dies schon bei einem noch am meisten abgeschlossenen Zwiebel-
gewächs nicht können, so können wir es noch viel weniger bei einem
Baume.

Wenn es, wie behauptet wird, hundertjährige Wallfische giebt, so
mögen diese, was jedoch zu bezweifeln ist, immer noch an Größe zunehmen,
aber dieses Wachsthum ist nicht das Wachsthum eines Baumes. Es ist
dem Wallfisch kein neues Glied, kein inneres Organ hinzugewachsen; in
dieser Beziehung ist er schon seit langer Zeit fertig, ausgebildet, abge-
schlossen. Bei einer hundertjährigen Buche hat man dies niemals sagen
können und wird man es nie sagen können, wenn sie auch 200, 300 Jahre
alt werden sollte; es werden ihr immer neue Theile hinzuwachsen und
früher besessene gehen ihr fortwährend verloren.

Indem wir jetzt von anderen Pflanzengestalten absehen, bei denen
diese Erscheinung einige Einschränkung erleidet, so können wir also bei
den Bäumen von einem Fertigsein, von einem Abschluß nicht sprechen.

Wir können einen Baum durchaus nicht in demselben Sinne ein
Einzelwesen nennen, wie ein Pferd. Wenn das letztere ausgewachsen ist,
so hört es im gesunden Zustande gleichwohl nicht auf, Nahrungsstoffe in
sich aufzunehmen, aus dem dazu brauchbaren Theile derselben Blut zu

dieſe nahe Beziehung zu einander mußte mit Nothwendigkeit zu einem
vergleichenden Blick auf beide, zu einer ſcharfen Unterſcheidung beider hin-
drängen.

Die im ganzen Pflanzenreiche ſich ausſprechende Unbegrenztheit wieder-
holt ſich mit mehr oder weniger Beſtimmtheit an der einzelnen Pflanze.
Wir können eine Pflanze nicht mit derſelben Schärfe und Abgeſchloſſenheit
ein Individuum, ein Einzelweſen, nennen, von dem wir ſagen könnten, es
iſt fertig, es kann ihm nichts genommen, nichts hinzugefügt oder wenigſtens
hinzugefügt gedacht werden, wie wir das Thier in ſolchem Sinne ein
Individuum nennen können. Das kleinſte Inſekt, ſobald es ſeine Ver-
wandlungszuſtände durchlaufen hat, iſt ein fertiger, abgeſchloſſener Körper,
dem wir kein Theilchen rauben können, ohne ſeinen leiblichen Beſtand zu
ſtören, von dem wir ebenſo beſtimmt wiſſen, daß es nicht größer wird,
daß ihm kein neuer Theil mehr zuwächſt.

Von welcher Pflanze können wir dies ſagen? Wann iſt ein Hyacinthen-
ſtock fertig? Wie viel Blätter und Blüthen muß er haben, um es zu ſein?
Wenn wir dies ſchon bei einem noch am meiſten abgeſchloſſenen Zwiebel-
gewächs nicht können, ſo können wir es noch viel weniger bei einem
Baume.

Wenn es, wie behauptet wird, hundertjährige Wallfiſche giebt, ſo
mögen dieſe, was jedoch zu bezweifeln iſt, immer noch an Größe zunehmen,
aber dieſes Wachsthum iſt nicht das Wachsthum eines Baumes. Es iſt
dem Wallfiſch kein neues Glied, kein inneres Organ hinzugewachſen; in
dieſer Beziehung iſt er ſchon ſeit langer Zeit fertig, ausgebildet, abge-
ſchloſſen. Bei einer hundertjährigen Buche hat man dies niemals ſagen
können und wird man es nie ſagen können, wenn ſie auch 200, 300 Jahre
alt werden ſollte; es werden ihr immer neue Theile hinzuwachſen und
früher beſeſſene gehen ihr fortwährend verloren.

Indem wir jetzt von anderen Pflanzengeſtalten abſehen, bei denen
dieſe Erſcheinung einige Einſchränkung erleidet, ſo können wir alſo bei
den Bäumen von einem Fertigſein, von einem Abſchluß nicht ſprechen.

Wir können einen Baum durchaus nicht in demſelben Sinne ein
Einzelweſen nennen, wie ein Pferd. Wenn das letztere ausgewachſen iſt,
ſo hört es im geſunden Zuſtande gleichwohl nicht auf, Nahrungsſtoffe in
ſich aufzunehmen, aus dem dazu brauchbaren Theile derſelben Blut zu

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[13/0037] dieſe nahe Beziehung zu einander mußte mit Nothwendigkeit zu einem vergleichenden Blick auf beide, zu einer ſcharfen Unterſcheidung beider hin- drängen. Die im ganzen Pflanzenreiche ſich ausſprechende Unbegrenztheit wieder- holt ſich mit mehr oder weniger Beſtimmtheit an der einzelnen Pflanze. Wir können eine Pflanze nicht mit derſelben Schärfe und Abgeſchloſſenheit ein Individuum, ein Einzelweſen, nennen, von dem wir ſagen könnten, es iſt fertig, es kann ihm nichts genommen, nichts hinzugefügt oder wenigſtens hinzugefügt gedacht werden, wie wir das Thier in ſolchem Sinne ein Individuum nennen können. Das kleinſte Inſekt, ſobald es ſeine Ver- wandlungszuſtände durchlaufen hat, iſt ein fertiger, abgeſchloſſener Körper, dem wir kein Theilchen rauben können, ohne ſeinen leiblichen Beſtand zu ſtören, von dem wir ebenſo beſtimmt wiſſen, daß es nicht größer wird, daß ihm kein neuer Theil mehr zuwächſt. Von welcher Pflanze können wir dies ſagen? Wann iſt ein Hyacinthen- ſtock fertig? Wie viel Blätter und Blüthen muß er haben, um es zu ſein? Wenn wir dies ſchon bei einem noch am meiſten abgeſchloſſenen Zwiebel- gewächs nicht können, ſo können wir es noch viel weniger bei einem Baume. Wenn es, wie behauptet wird, hundertjährige Wallfiſche giebt, ſo mögen dieſe, was jedoch zu bezweifeln iſt, immer noch an Größe zunehmen, aber dieſes Wachsthum iſt nicht das Wachsthum eines Baumes. Es iſt dem Wallfiſch kein neues Glied, kein inneres Organ hinzugewachſen; in dieſer Beziehung iſt er ſchon ſeit langer Zeit fertig, ausgebildet, abge- ſchloſſen. Bei einer hundertjährigen Buche hat man dies niemals ſagen können und wird man es nie ſagen können, wenn ſie auch 200, 300 Jahre alt werden ſollte; es werden ihr immer neue Theile hinzuwachſen und früher beſeſſene gehen ihr fortwährend verloren. Indem wir jetzt von anderen Pflanzengeſtalten abſehen, bei denen dieſe Erſcheinung einige Einſchränkung erleidet, ſo können wir alſo bei den Bäumen von einem Fertigſein, von einem Abſchluß nicht ſprechen. Wir können einen Baum durchaus nicht in demſelben Sinne ein Einzelweſen nennen, wie ein Pferd. Wenn das letztere ausgewachſen iſt, ſo hört es im geſunden Zuſtande gleichwohl nicht auf, Nahrungsſtoffe in ſich aufzunehmen, aus dem dazu brauchbaren Theile derſelben Blut zu

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/37>, abgerufen am 27.04.2024.