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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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dem verheiratheten Weibe alles auflegt, und
wie unfähig ihr physischer Zustand sie oft macht,
für die eigenen noch unerzogenen Kinder zu sorgen.
Da muß denn irgend eine gute Tante, Schwester
oder Freundin Stellvertreterin werden. Und die
Eltern, die ihr Kind der jungen Mutter anver-
traut hatten, müssen in solchem Fall dies Ver-
trauen erst wieder auf eine andere Person über-
tragen. Aber wir hatten das glücklichste Ver-
hältniß dieser erziehenden Familie angenommen:
lassen Sie uns einmal ein nicht glückliches dage-
gen setzen, wo beide Ehegatten aus dem Rausche
einer Leidenschaft für einander erwacht, jetzt
gleichgültig geworden, wo der Eheherr sein Recht
als Herr des Hauses in aller Strenge ausübt,
und der Erzieherin die Hände durchaus gebunden
sind -- wie dann? wofür wird sie noch stehen kön-
nen, auch wenn sie selbst noch so vortreflich wäre?
Oder haben wir etwa keine Beispiele, daß die an
Geist und Herzen trefliche Gattin in den ersten
Jahren ihres Ehestandes jenen äußerlichen Reitz
verliert, der den sinnlichen Mann allein zu ihr
hingezogen hatte? Und haben wir keine Beispiele,

dem verheiratheten Weibe alles auflegt, und
wie unfähig ihr phyſiſcher Zuſtand ſie oft macht,
für die eigenen noch unerzogenen Kinder zu ſorgen.
Da muß denn irgend eine gute Tante, Schweſter
oder Freundin Stellvertreterin werden. Und die
Eltern, die ihr Kind der jungen Mutter anver-
traut hatten, müſſen in ſolchem Fall dies Ver-
trauen erſt wieder auf eine andere Perſon über-
tragen. Aber wir hatten das glücklichſte Ver-
hältniß dieſer erziehenden Familie angenommen:
laſſen Sie uns einmal ein nicht glückliches dage-
gen ſetzen, wo beide Ehegatten aus dem Rauſche
einer Leidenſchaft für einander erwacht, jetzt
gleichgültig geworden, wo der Eheherr ſein Recht
als Herr des Hauſes in aller Strenge ausübt,
und der Erzieherin die Hände durchaus gebunden
ſind — wie dann? wofür wird ſie noch ſtehen kön-
nen, auch wenn ſie ſelbſt noch ſo vortreflich wäre?
Oder haben wir etwa keine Beiſpiele, daß die an
Geiſt und Herzen trefliche Gattin in den erſten
Jahren ihres Eheſtandes jenen äußerlichen Reitz
verliert, der den ſinnlichen Mann allein zu ihr
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[300/0314] dem verheiratheten Weibe alles auflegt, und wie unfähig ihr phyſiſcher Zuſtand ſie oft macht, für die eigenen noch unerzogenen Kinder zu ſorgen. Da muß denn irgend eine gute Tante, Schweſter oder Freundin Stellvertreterin werden. Und die Eltern, die ihr Kind der jungen Mutter anver- traut hatten, müſſen in ſolchem Fall dies Ver- trauen erſt wieder auf eine andere Perſon über- tragen. Aber wir hatten das glücklichſte Ver- hältniß dieſer erziehenden Familie angenommen: laſſen Sie uns einmal ein nicht glückliches dage- gen ſetzen, wo beide Ehegatten aus dem Rauſche einer Leidenſchaft für einander erwacht, jetzt gleichgültig geworden, wo der Eheherr ſein Recht als Herr des Hauſes in aller Strenge ausübt, und der Erzieherin die Hände durchaus gebunden ſind — wie dann? wofür wird ſie noch ſtehen kön- nen, auch wenn ſie ſelbſt noch ſo vortreflich wäre? Oder haben wir etwa keine Beiſpiele, daß die an Geiſt und Herzen trefliche Gattin in den erſten Jahren ihres Eheſtandes jenen äußerlichen Reitz verliert, der den ſinnlichen Mann allein zu ihr hingezogen hatte? Und haben wir keine Beiſpiele,

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/314>, abgerufen am 29.04.2024.