daß auch ein Paar recht treflicher Menschen sich auf eine Zeitlang oder auf immer total mißver- stehen, besonders, wenn sie durch Selbsttäuschung oder durch Zwang von Umständen, ohne eigent- liche Wahl des Herzens, zu einander gekommen?
Jch. Aber Sie nehmen schlimme Fälle an, lie- ber Freund.
Pfarrer. Und doch gehören sie nicht eben zu den seltensten. Ein vollkommen glückliches Ver- hältniß in der Ehe ist gewiß keine alltägliche Er- scheinung. Und sehr gut müßte dies häusliche Verhältniß doch seyn, wenn es der Erziehung fremder Kinder nicht nachtheilig seyn sollte -- und so nachtheilig, daß das Benefiz des Familienle- bens leicht dadurch aufgewogen werden dürfte.
Jch. So darf ja ein nicht glückliches Paar auch seine eigenen Sprößlinge nicht aufziehen, lieber Freund.
Pfarrer. Wenn das Verhältniß recht schlimm ist, darf es das nicht. Und wenn übrigens gute Menschen die traurige Entdeckung gemacht, daß
daß auch ein Paar recht treflicher Menſchen ſich auf eine Zeitlang oder auf immer total mißver- ſtehen, beſonders, wenn ſie durch Selbſttäuſchung oder durch Zwang von Umſtänden, ohne eigent- liche Wahl des Herzens, zu einander gekommen?
Jch. Aber Sie nehmen ſchlimme Fälle an, lie- ber Freund.
Pfarrer. Und doch gehören ſie nicht eben zu den ſeltenſten. Ein vollkommen glückliches Ver- hältniß in der Ehe iſt gewiß keine alltägliche Er- ſcheinung. Und ſehr gut müßte dies häusliche Verhältniß doch ſeyn, wenn es der Erziehung fremder Kinder nicht nachtheilig ſeyn ſollte — und ſo nachtheilig, daß das Benefiz des Familienle- bens leicht dadurch aufgewogen werden dürfte.
Jch. So darf ja ein nicht glückliches Paar auch ſeine eigenen Sprößlinge nicht aufziehen, lieber Freund.
Pfarrer. Wenn das Verhältniß recht ſchlimm iſt, darf es das nicht. Und wenn übrigens gute Menſchen die traurige Entdeckung gemacht, daß
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daß auch ein Paar recht treflicher Menſchen ſich
auf eine Zeitlang oder auf immer total mißver-
ſtehen, beſonders, wenn ſie durch Selbſttäuſchung
oder durch Zwang von Umſtänden, ohne eigent-
liche Wahl des Herzens, zu einander gekommen?
Jch. Aber Sie nehmen ſchlimme Fälle an, lie-
ber Freund.
Pfarrer. Und doch gehören ſie nicht eben zu
den ſeltenſten. Ein vollkommen glückliches Ver-
hältniß in der Ehe iſt gewiß keine alltägliche Er-
ſcheinung. Und ſehr gut müßte dies häusliche
Verhältniß doch ſeyn, wenn es der Erziehung
fremder Kinder nicht nachtheilig ſeyn ſollte — und
ſo nachtheilig, daß das Benefiz des Familienle-
bens leicht dadurch aufgewogen werden dürfte.
Jch. So darf ja ein nicht glückliches Paar
auch ſeine eigenen Sprößlinge nicht aufziehen,
lieber Freund.
Pfarrer. Wenn das Verhältniß recht ſchlimm
iſt, darf es das nicht. Und wenn übrigens gute
Menſchen die traurige Entdeckung gemacht, daß
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/315>, abgerufen am 29.04.2024.
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