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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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nichts mehr rechten Theil nimmt, freut sich auf
den Abend, und kann ihn nicht erwarten.

Mit Jda hat Woldemar einen noch zarteren
Ton genommen. Sie schwebt um den Bruder,
wie eine dienende Hebe um den Göttersohn. Clär-
chen und Mathilde treten vor dem Jüngling ein
wenig schüchtern zurück, so vertraut sie auch mit
dem Knaben waren. Er merkt das nicht. Seine
ganze Aufmerksamkeit ist zwischen der Schwester
und der traurenden Betty getheilt. Wie viel der
letztern davon gehört, scheint er sich nicht bewußt
zu seyn. -- Hertha stellt sich, wo sie nur kann,
mit der geflissensten Aufmerksamkeit ihm entgegen.
Bald bringt sie ihm Blumen; bald will sie ihm
das eingeschenkte Glas bringen; bald ihm Licht
holen, wenn er siegeln will; kurz, sie lauert auf
jede Gelegenheit, wo sie der Jda ein Dienstchen
wegstehlen kann. Hätte der Schmerz nicht alle
Gemüther zu größerer Milde gestimmt: ich fürch-
te, Jda's Geduld käme durch Hertha auf eine zu
harte Probe. Woldemar nimmt ihrer wenig wahr.
Er nennt sie die Geiß, oder auch den Rehbock,

nichts mehr rechten Theil nimmt, freut ſich auf
den Abend, und kann ihn nicht erwarten.

Mit Jda hat Woldemar einen noch zarteren
Ton genommen. Sie ſchwebt um den Bruder,
wie eine dienende Hebe um den Götterſohn. Clär-
chen und Mathilde treten vor dem Jüngling ein
wenig ſchüchtern zurück, ſo vertraut ſie auch mit
dem Knaben waren. Er merkt das nicht. Seine
ganze Aufmerkſamkeit iſt zwiſchen der Schweſter
und der traurenden Betty getheilt. Wie viel der
letztern davon gehört, ſcheint er ſich nicht bewußt
zu ſeyn. — Hertha ſtellt ſich, wo ſie nur kann,
mit der gefliſſenſten Aufmerkſamkeit ihm entgegen.
Bald bringt ſie ihm Blumen; bald will ſie ihm
das eingeſchenkte Glas bringen; bald ihm Licht
holen, wenn er ſiegeln will; kurz, ſie lauert auf
jede Gelegenheit, wo ſie der Jda ein Dienſtchen
wegſtehlen kann. Hätte der Schmerz nicht alle
Gemüther zu größerer Milde geſtimmt: ich fürch-
te, Jda’s Geduld käme durch Hertha auf eine zu
harte Probe. Woldemar nimmt ihrer wenig wahr.
Er nennt ſie die Geiß, oder auch den Rehbock,

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[118/0126] nichts mehr rechten Theil nimmt, freut ſich auf den Abend, und kann ihn nicht erwarten. Mit Jda hat Woldemar einen noch zarteren Ton genommen. Sie ſchwebt um den Bruder, wie eine dienende Hebe um den Götterſohn. Clär- chen und Mathilde treten vor dem Jüngling ein wenig ſchüchtern zurück, ſo vertraut ſie auch mit dem Knaben waren. Er merkt das nicht. Seine ganze Aufmerkſamkeit iſt zwiſchen der Schweſter und der traurenden Betty getheilt. Wie viel der letztern davon gehört, ſcheint er ſich nicht bewußt zu ſeyn. — Hertha ſtellt ſich, wo ſie nur kann, mit der gefliſſenſten Aufmerkſamkeit ihm entgegen. Bald bringt ſie ihm Blumen; bald will ſie ihm das eingeſchenkte Glas bringen; bald ihm Licht holen, wenn er ſiegeln will; kurz, ſie lauert auf jede Gelegenheit, wo ſie der Jda ein Dienſtchen wegſtehlen kann. Hätte der Schmerz nicht alle Gemüther zu größerer Milde geſtimmt: ich fürch- te, Jda’s Geduld käme durch Hertha auf eine zu harte Probe. Woldemar nimmt ihrer wenig wahr. Er nennt ſie die Geiß, oder auch den Rehbock,

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/126>, abgerufen am 29.04.2024.