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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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ne neu zu kleiden. Sie wächs't so schnell, daß ihr
Vorrath von Kleidern fast nicht mehr zu brauchen
ist. Da solltest Du die emsigen Mädchen sehen.
Es ist ein sehr sauber gewöhntes Kind. Mit wel-
cher Freude sie es des Morgens kleiden, kannst
Du Dir kaum vorstellen, dann wird es mir zum
Morgenkuß gebracht. Und Gott allein weiß, mit
welcher Jnnigkeit ich ihm für diese Erbschaft dan-
ke; die schönste, die ich in meinem Leben gemacht
habe. Mein Auge fließt oft über, wenn ich den
verlaßnen Engel an's Herz drücke. "Mutter nicht
unartig seyn", sagte sie heute morgen, als meine
Augen beim Anblick des holdseligen Kindes feucht
wurden. Sie nahm ihre beiden verkehrten Händ-
chen und drückte sie mir auf die Augen, um mir
die süßesten Thränen abzuwischen. "Seraphine
auch nicht unartig seyn -- Mutter lachen!" rief
sie, als mein Herz von Seligkeit überfloß. "Jda,
Mutter wieder lachen!" -- und ihre kleinen Händ-
chen streichelten mich sanft. "Buo, Mutter nicht
mehr unartig", rief sie dem Bruno entgegen, der
eben hereintrat. Neulich stand sie auf Jda's
Schooß und sah ihr lange in die Augen, endlich

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ne neu zu kleiden. Sie wächſ’t ſo ſchnell, daß ihr
Vorrath von Kleidern faſt nicht mehr zu brauchen
iſt. Da ſollteſt Du die emſigen Mädchen ſehen.
Es iſt ein ſehr ſauber gewöhntes Kind. Mit wel-
cher Freude ſie es des Morgens kleiden, kannſt
Du Dir kaum vorſtellen, dann wird es mir zum
Morgenkuß gebracht. Und Gott allein weiß, mit
welcher Jnnigkeit ich ihm für dieſe Erbſchaft dan-
ke; die ſchönſte, die ich in meinem Leben gemacht
habe. Mein Auge fließt oft über, wenn ich den
verlaßnen Engel an’s Herz drücke. „Mutter nicht
unartig ſeyn‟, ſagte ſie heute morgen, als meine
Augen beim Anblick des holdſeligen Kindes feucht
wurden. Sie nahm ihre beiden verkehrten Händ-
chen und drückte ſie mir auf die Augen, um mir
die ſüßeſten Thränen abzuwiſchen. „Seraphine
auch nicht unartig ſeyn — Mutter lachen!‟ rief
ſie, als mein Herz von Seligkeit überfloß. „Jda,
Mutter wieder lachen!‟ — und ihre kleinen Händ-
chen ſtreichelten mich ſanft. „Buo, Mutter nicht
mehr unartig‟, rief ſie dem Bruno entgegen, der
eben hereintrat. Neulich ſtand ſie auf Jda’s
Schooß und ſah ihr lange in die Augen, endlich

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[209/0217] ne neu zu kleiden. Sie wächſ’t ſo ſchnell, daß ihr Vorrath von Kleidern faſt nicht mehr zu brauchen iſt. Da ſollteſt Du die emſigen Mädchen ſehen. Es iſt ein ſehr ſauber gewöhntes Kind. Mit wel- cher Freude ſie es des Morgens kleiden, kannſt Du Dir kaum vorſtellen, dann wird es mir zum Morgenkuß gebracht. Und Gott allein weiß, mit welcher Jnnigkeit ich ihm für dieſe Erbſchaft dan- ke; die ſchönſte, die ich in meinem Leben gemacht habe. Mein Auge fließt oft über, wenn ich den verlaßnen Engel an’s Herz drücke. „Mutter nicht unartig ſeyn‟, ſagte ſie heute morgen, als meine Augen beim Anblick des holdſeligen Kindes feucht wurden. Sie nahm ihre beiden verkehrten Händ- chen und drückte ſie mir auf die Augen, um mir die ſüßeſten Thränen abzuwiſchen. „Seraphine auch nicht unartig ſeyn — Mutter lachen!‟ rief ſie, als mein Herz von Seligkeit überfloß. „Jda, Mutter wieder lachen!‟ — und ihre kleinen Händ- chen ſtreichelten mich ſanft. „Buo, Mutter nicht mehr unartig‟, rief ſie dem Bruno entgegen, der eben hereintrat. Neulich ſtand ſie auf Jda’s Schooß und ſah ihr lange in die Augen, endlich (27)

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/217>, abgerufen am 30.04.2024.