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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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burg behauptete ja oft, es gäbe so viele gar unbe-
greifliche Dinge -- und hatte gewiß sehr recht,
gute Hertha. Aber zu dem vielen Unbegreiflichen
das uns vor Augen liegt, wollen wir ja nicht noch
die Ammenmährchen hinzuthun, um uns zu quä-
len. Jst Dir oder Mathilde oder Jda je etwas
der Art begegnet, liebe Hertha? Nein, Tante.
Nun so glaube es mir einmal aufs Wort, es gebe
keine solche Erscheinung. Aber Tante, wie soll
ich denn solche Gedanken los werden, die mich bei
Tage eben nicht quälen, aber sobald es dunkel
wird und ich allein bin -- mich unbeschreiblich
ängstigen? Jda erbot sich darauf, allemal mit ihr
zu gehen, so oft sie Abends im Dunkeln hinauf
oder hinunter zu gehen habe, so lange bis sie sich
nicht mehr fürchte. Selbst im Mondschein, sagte
Hertha, sey ihr oft unaussprechlich bange, weil
sie da immer sonderbare finstere Gestalten sehe.
Und ich, sagte Jda, sahe auf den goldnen Mond-
stralen oft ein ganzes Heer freundlicher Genien zu
mir kommen, oder schöne Engelsgesichter darauf
schweben, wie Raphael sie gemalt.

Wie verschieden dieser beiden Phantasieen! Jda



burg behauptete ja oft, es gäbe ſo viele gar unbe-
greifliche Dinge — und hatte gewiß ſehr recht,
gute Hertha. Aber zu dem vielen Unbegreiflichen
das uns vor Augen liegt, wollen wir ja nicht noch
die Ammenmährchen hinzuthun, um uns zu quä-
len. Jſt Dir oder Mathilde oder Jda je etwas
der Art begegnet, liebe Hertha? Nein, Tante.
Nun ſo glaube es mir einmal aufs Wort, es gebe
keine ſolche Erſcheinung. Aber Tante, wie ſoll
ich denn ſolche Gedanken los werden, die mich bei
Tage eben nicht quälen, aber ſobald es dunkel
wird und ich allein bin — mich unbeſchreiblich
ängſtigen? Jda erbot ſich darauf, allemal mit ihr
zu gehen, ſo oft ſie Abends im Dunkeln hinauf
oder hinunter zu gehen habe, ſo lange bis ſie ſich
nicht mehr fürchte. Selbſt im Mondſchein, ſagte
Hertha, ſey ihr oft unausſprechlich bange, weil
ſie da immer ſonderbare finſtere Geſtalten ſehe.
Und ich, ſagte Jda, ſahe auf den goldnen Mond-
ſtralen oft ein ganzes Heer freundlicher Genien zu
mir kommen, oder ſchöne Engelsgeſichter darauf
ſchweben, wie Raphael ſie gemalt.

Wie verſchieden dieſer beiden Phantaſieen! Jda

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[219/0227] burg behauptete ja oft, es gäbe ſo viele gar unbe- greifliche Dinge — und hatte gewiß ſehr recht, gute Hertha. Aber zu dem vielen Unbegreiflichen das uns vor Augen liegt, wollen wir ja nicht noch die Ammenmährchen hinzuthun, um uns zu quä- len. Jſt Dir oder Mathilde oder Jda je etwas der Art begegnet, liebe Hertha? Nein, Tante. Nun ſo glaube es mir einmal aufs Wort, es gebe keine ſolche Erſcheinung. Aber Tante, wie ſoll ich denn ſolche Gedanken los werden, die mich bei Tage eben nicht quälen, aber ſobald es dunkel wird und ich allein bin — mich unbeſchreiblich ängſtigen? Jda erbot ſich darauf, allemal mit ihr zu gehen, ſo oft ſie Abends im Dunkeln hinauf oder hinunter zu gehen habe, ſo lange bis ſie ſich nicht mehr fürchte. Selbſt im Mondſchein, ſagte Hertha, ſey ihr oft unausſprechlich bange, weil ſie da immer ſonderbare finſtere Geſtalten ſehe. Und ich, ſagte Jda, ſahe auf den goldnen Mond- ſtralen oft ein ganzes Heer freundlicher Genien zu mir kommen, oder ſchöne Engelsgeſichter darauf ſchweben, wie Raphael ſie gemalt. Wie verſchieden dieſer beiden Phantaſieen! Jda

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/227>, abgerufen am 30.04.2024.