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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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sie näher. Bis jetzt habe ich sie noch fast unbe-
schäftigt gelassen, weil sie einen großen Wider-
willen gegen alle weibliche Handarbeiten, wie
gegen jede Anstrengung des Kopfes bezeigt. Das
einzige was sie gern mit uns thut, ist spazieren
gehen; und da hält sie sich an meiner Seite, und
will immer erzählt haben. Da wechseln dann die
Drei mit mir ab. Sie sehen es alle, wo es
Hertha fehlt; doch sind sie sehr liebreich ge-
gen sie. Mathilde kam gestern Abend beim
Schlafengehen zu mir, ergrif meine Hand und
küßte sie mit Heftigkeit. "Jetzt, du gute Tante,
fühle ich es zum erstenmale ganz, was ich dir
verdanke. Wenn ich Hertha ansehe, ist es, als
ob ich mich selbst im Spiegel sehe, wie ich vor
ein paar Jahren noch war. Aber ich will dir
auch helfen, Hertha zu bessern. Wir alle
Drei haben es verabredet, daß wir sie nie tadeln,
ihr niemals widersprechen, und ihr immer nur
ein |stilles Beispiel seyn wollen." Jch mußte
sie herzlich an mich drücken. -- Und willst du
das, mein theures Kind? -- "Wie könnt' ich
dir, beste Tante, sonst auch die Engelsgeduld

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ſie näher. Bis jetzt habe ich ſie noch faſt unbe-
ſchäftigt gelaſſen, weil ſie einen großen Wider-
willen gegen alle weibliche Handarbeiten, wie
gegen jede Anſtrengung des Kopfes bezeigt. Das
einzige was ſie gern mit uns thut, iſt ſpazieren
gehen; und da hält ſie ſich an meiner Seite, und
will immer erzählt haben. Da wechſeln dann die
Drei mit mir ab. Sie ſehen es alle, wo es
Hertha fehlt; doch ſind ſie ſehr liebreich ge-
gen ſie. Mathilde kam geſtern Abend beim
Schlafengehen zu mir, ergrif meine Hand und
küßte ſie mit Heftigkeit. „Jetzt, du gute Tante,
fühle ich es zum erſtenmale ganz, was ich dir
verdanke. Wenn ich Hertha anſehe, iſt es, als
ob ich mich ſelbſt im Spiegel ſehe, wie ich vor
ein paar Jahren noch war. Aber ich will dir
auch helfen, Hertha zu beſſern. Wir alle
Drei haben es verabredet, daß wir ſie nie tadeln,
ihr niemals widerſprechen, und ihr immer nur
ein |ſtilles Beiſpiel ſeyn wollen.‟ Jch mußte
ſie herzlich an mich drücken. — Und willſt du
das, mein theures Kind? — „Wie könnt’ ich
dir, beſte Tante, ſonſt auch die Engelsgeduld

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[89/0097] ſie näher. Bis jetzt habe ich ſie noch faſt unbe- ſchäftigt gelaſſen, weil ſie einen großen Wider- willen gegen alle weibliche Handarbeiten, wie gegen jede Anſtrengung des Kopfes bezeigt. Das einzige was ſie gern mit uns thut, iſt ſpazieren gehen; und da hält ſie ſich an meiner Seite, und will immer erzählt haben. Da wechſeln dann die Drei mit mir ab. Sie ſehen es alle, wo es Hertha fehlt; doch ſind ſie ſehr liebreich ge- gen ſie. Mathilde kam geſtern Abend beim Schlafengehen zu mir, ergrif meine Hand und küßte ſie mit Heftigkeit. „Jetzt, du gute Tante, fühle ich es zum erſtenmale ganz, was ich dir verdanke. Wenn ich Hertha anſehe, iſt es, als ob ich mich ſelbſt im Spiegel ſehe, wie ich vor ein paar Jahren noch war. Aber ich will dir auch helfen, Hertha zu beſſern. Wir alle Drei haben es verabredet, daß wir ſie nie tadeln, ihr niemals widerſprechen, und ihr immer nur ein |ſtilles Beiſpiel ſeyn wollen.‟ Jch mußte ſie herzlich an mich drücken. — Und willſt du das, mein theures Kind? — „Wie könnt’ ich dir, beſte Tante, ſonſt auch die Engelsgeduld (12)

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/97>, abgerufen am 27.04.2024.