Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
Vitalität.

Die Meynungen und Gründe der Rechtslehrer über
diese Streitfrage darzustellen, ist deswegen schwierig, weil
die Meisten selbst keine klare Vorstellung von der Sache
gehabt haben. Sie verwirren nämlich stets die Vitalität
als Bedingung der Rechtsfähigkeit mit der Vermuthung
für die Paternität, und unterscheiden daher nicht den zwie-
fachen Einfluß, den man dem Urtheil der Arzte möglicher-
weise einräumen kann: erstlich, wenn die Frage entsteht,
ob ein gleich nach der Geburt verstorbenes Kind Rechte
gehabt hat; zweytens, wenn bey einem fortlebenden Men-
schen die eheliche Erzeugung bestritten wird (aa). Nach
unsrer Meynung haben in beiden Fällen die Ärzte gar
nicht mitzusprechen: nicht im ersten Fall, weil das Kind,
das nur einen Augenblick nach der Geburt wirklich lebte,
immer Rechte hat; nicht im zweyten Fall, weil das positive

(aa) Bey einem Rechtsstreit
über die eheliche Erzeugung wird
die Vitalität gewöhnlich gar nicht
zur Sprache kommen, weil meist
von einem solchen Kind die Rede
seyn wird, das in der That län-
ger fortgelebt hat, ja vielleicht den
gegenwärtigen Rechtsstreit in ei-
gener Person führt; einem solchen
die Vitalität zu bestreiten würde
einigermaßen lächerlich seyn. Da-
gegen können allerdings seltnere
Fälle vorkommen, worin beide
Streitfragen zugleich zu entschei-
den sind. Wir wollen annehmen,
daß ein Mann heirathet, wenige
Monate nachher stirbt, und kurz
darauf die Wittwe ein Kind zur
Welt bringt, welches nur einen
Tag lebt. Wenn jetzt die Wittwe
behauptet, die Erbschaft des Man-
nes sey ipso jure dem Kinde
erworben, und sie wolle nun das
Kind beerben, so können die bei-
den Fragen neben einander vor-
kommen: 1) war das Kind vital,
also rechtsfähig? 2) ist nach der
Zeit seiner Geburt die eheliche
Erzeugung zu vermuthen, so daß
das Kind den Verstorbenen beer-
ben konnte? Allein beide Fragen
sind dennoch auch in einem solchen
Falle von einander unabhängig,
und ihre Beantwortung muß aus
ganz verschiedenen Gründen er-
folgen.
Vitalität.

Die Meynungen und Gründe der Rechtslehrer über
dieſe Streitfrage darzuſtellen, iſt deswegen ſchwierig, weil
die Meiſten ſelbſt keine klare Vorſtellung von der Sache
gehabt haben. Sie verwirren nämlich ſtets die Vitalität
als Bedingung der Rechtsfähigkeit mit der Vermuthung
für die Paternität, und unterſcheiden daher nicht den zwie-
fachen Einfluß, den man dem Urtheil der Arzte möglicher-
weiſe einräumen kann: erſtlich, wenn die Frage entſteht,
ob ein gleich nach der Geburt verſtorbenes Kind Rechte
gehabt hat; zweytens, wenn bey einem fortlebenden Men-
ſchen die eheliche Erzeugung beſtritten wird (aa). Nach
unſrer Meynung haben in beiden Fällen die Ärzte gar
nicht mitzuſprechen: nicht im erſten Fall, weil das Kind,
das nur einen Augenblick nach der Geburt wirklich lebte,
immer Rechte hat; nicht im zweyten Fall, weil das poſitive

(aa) Bey einem Rechtsſtreit
über die eheliche Erzeugung wird
die Vitalität gewöhnlich gar nicht
zur Sprache kommen, weil meiſt
von einem ſolchen Kind die Rede
ſeyn wird, das in der That län-
ger fortgelebt hat, ja vielleicht den
gegenwärtigen Rechtsſtreit in ei-
gener Perſon führt; einem ſolchen
die Vitalität zu beſtreiten würde
einigermaßen lächerlich ſeyn. Da-
gegen können allerdings ſeltnere
Fälle vorkommen, worin beide
Streitfragen zugleich zu entſchei-
den ſind. Wir wollen annehmen,
daß ein Mann heirathet, wenige
Monate nachher ſtirbt, und kurz
darauf die Wittwe ein Kind zur
Welt bringt, welches nur einen
Tag lebt. Wenn jetzt die Wittwe
behauptet, die Erbſchaft des Man-
nes ſey ipso jure dem Kinde
erworben, und ſie wolle nun das
Kind beerben, ſo können die bei-
den Fragen neben einander vor-
kommen: 1) war das Kind vital,
alſo rechtsfähig? 2) iſt nach der
Zeit ſeiner Geburt die eheliche
Erzeugung zu vermuthen, ſo daß
das Kind den Verſtorbenen beer-
ben konnte? Allein beide Fragen
ſind dennoch auch in einem ſolchen
Falle von einander unabhängig,
und ihre Beantwortung muß aus
ganz verſchiedenen Gründen er-
folgen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0423" n="409"/>
          <fw place="top" type="header">Vitalität.</fw><lb/>
          <p>Die Meynungen und Gründe der Rechtslehrer über<lb/>
die&#x017F;e Streitfrage darzu&#x017F;tellen, i&#x017F;t deswegen &#x017F;chwierig, weil<lb/>
die Mei&#x017F;ten &#x017F;elb&#x017F;t keine klare Vor&#x017F;tellung von der Sache<lb/>
gehabt haben. Sie verwirren nämlich &#x017F;tets die Vitalität<lb/>
als Bedingung der Rechtsfähigkeit mit der Vermuthung<lb/>
für die Paternität, und unter&#x017F;cheiden daher nicht den zwie-<lb/>
fachen Einfluß, den man dem Urtheil der Arzte möglicher-<lb/>
wei&#x017F;e einräumen kann: er&#x017F;tlich, wenn die Frage ent&#x017F;teht,<lb/>
ob ein gleich nach der Geburt ver&#x017F;torbenes Kind Rechte<lb/>
gehabt hat; zweytens, wenn bey einem fortlebenden Men-<lb/>
&#x017F;chen die eheliche Erzeugung be&#x017F;tritten wird <note place="foot" n="(aa)">Bey einem Rechts&#x017F;treit<lb/>
über die eheliche Erzeugung wird<lb/>
die Vitalität gewöhnlich gar nicht<lb/>
zur Sprache kommen, weil mei&#x017F;t<lb/>
von einem &#x017F;olchen Kind die Rede<lb/>
&#x017F;eyn wird, das in der That län-<lb/>
ger fortgelebt hat, ja vielleicht den<lb/>
gegenwärtigen Rechts&#x017F;treit in ei-<lb/>
gener Per&#x017F;on führt; einem &#x017F;olchen<lb/>
die Vitalität zu be&#x017F;treiten würde<lb/>
einigermaßen lächerlich &#x017F;eyn. Da-<lb/>
gegen können allerdings &#x017F;eltnere<lb/>
Fälle vorkommen, worin beide<lb/>
Streitfragen zugleich zu ent&#x017F;chei-<lb/>
den &#x017F;ind. Wir wollen annehmen,<lb/>
daß ein Mann heirathet, wenige<lb/>
Monate nachher &#x017F;tirbt, und kurz<lb/>
darauf die Wittwe ein Kind zur<lb/>
Welt bringt, welches nur einen<lb/>
Tag lebt. Wenn jetzt die Wittwe<lb/>
behauptet, die Erb&#x017F;chaft des Man-<lb/>
nes &#x017F;ey <hi rendition="#aq">ipso jure</hi> dem Kinde<lb/>
erworben, und &#x017F;ie wolle nun das<lb/>
Kind beerben, &#x017F;o können die bei-<lb/>
den Fragen neben einander vor-<lb/>
kommen: 1) war das Kind vital,<lb/>
al&#x017F;o rechtsfähig? 2) i&#x017F;t nach der<lb/>
Zeit &#x017F;einer Geburt die eheliche<lb/>
Erzeugung zu vermuthen, &#x017F;o daß<lb/>
das Kind den Ver&#x017F;torbenen beer-<lb/>
ben konnte? Allein beide Fragen<lb/>
&#x017F;ind dennoch auch in einem &#x017F;olchen<lb/>
Falle von einander unabhängig,<lb/>
und ihre Beantwortung muß aus<lb/>
ganz ver&#x017F;chiedenen Gründen er-<lb/>
folgen.</note>. Nach<lb/>
un&#x017F;rer Meynung haben in beiden Fällen die Ärzte gar<lb/>
nicht mitzu&#x017F;prechen: nicht im er&#x017F;ten Fall, weil das Kind,<lb/>
das nur einen Augenblick nach der Geburt wirklich lebte,<lb/>
immer Rechte hat; nicht im zweyten Fall, weil das po&#x017F;itive<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[409/0423] Vitalität. Die Meynungen und Gründe der Rechtslehrer über dieſe Streitfrage darzuſtellen, iſt deswegen ſchwierig, weil die Meiſten ſelbſt keine klare Vorſtellung von der Sache gehabt haben. Sie verwirren nämlich ſtets die Vitalität als Bedingung der Rechtsfähigkeit mit der Vermuthung für die Paternität, und unterſcheiden daher nicht den zwie- fachen Einfluß, den man dem Urtheil der Arzte möglicher- weiſe einräumen kann: erſtlich, wenn die Frage entſteht, ob ein gleich nach der Geburt verſtorbenes Kind Rechte gehabt hat; zweytens, wenn bey einem fortlebenden Men- ſchen die eheliche Erzeugung beſtritten wird (aa). Nach unſrer Meynung haben in beiden Fällen die Ärzte gar nicht mitzuſprechen: nicht im erſten Fall, weil das Kind, das nur einen Augenblick nach der Geburt wirklich lebte, immer Rechte hat; nicht im zweyten Fall, weil das poſitive (aa) Bey einem Rechtsſtreit über die eheliche Erzeugung wird die Vitalität gewöhnlich gar nicht zur Sprache kommen, weil meiſt von einem ſolchen Kind die Rede ſeyn wird, das in der That län- ger fortgelebt hat, ja vielleicht den gegenwärtigen Rechtsſtreit in ei- gener Perſon führt; einem ſolchen die Vitalität zu beſtreiten würde einigermaßen lächerlich ſeyn. Da- gegen können allerdings ſeltnere Fälle vorkommen, worin beide Streitfragen zugleich zu entſchei- den ſind. Wir wollen annehmen, daß ein Mann heirathet, wenige Monate nachher ſtirbt, und kurz darauf die Wittwe ein Kind zur Welt bringt, welches nur einen Tag lebt. Wenn jetzt die Wittwe behauptet, die Erbſchaft des Man- nes ſey ipso jure dem Kinde erworben, und ſie wolle nun das Kind beerben, ſo können die bei- den Fragen neben einander vor- kommen: 1) war das Kind vital, alſo rechtsfähig? 2) iſt nach der Zeit ſeiner Geburt die eheliche Erzeugung zu vermuthen, ſo daß das Kind den Verſtorbenen beer- ben konnte? Allein beide Fragen ſind dennoch auch in einem ſolchen Falle von einander unabhängig, und ihre Beantwortung muß aus ganz verſchiedenen Gründen er- folgen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840/423
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840/423>, abgerufen am 30.05.2024.