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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847.

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§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.

Daß aber das richterliche Urtheil eine solche Rückwir-
kung auf den Inhalt der Rechte ausübt, wie es oben als
die Aufgabe des gegenwärtigen Abschnitts bezeichnet worden
ist, das versteht sich keinesweges von selbst, und ist nicht
etwa eine aus dem Begriff des Richteramtes abzuleitende
natürliche oder nothwendige Folge. Aus diesem Begriff
folgt nur, daß jeder Rechtsstreit entschieden, und daß diese
Entscheidung durch äußere Macht, selbst gegen den Willen
der unterliegenden Partei, zur Ausführung gebracht werde.
Wenn aber in irgend einem späteren Rechtsstreit die Rich-
tigkeit des früheren Urtheils in Zweifel gezogen wird, so
scheint es natürlich, eine neue Prüfung vorzunehmen.
Wird dabei das Urtheil als ein irriges erkannt (sey es von
demselben oder von einem anderen Richter), so scheint es
eine einfache Forderung der Gerechtigkeit, den früheren
Irrthum zu berichtigen, und das begangene Unrecht gut
zu machen, indem das zuletzt erkannte wahre Recht geltend
gemacht wird.

Betrachten wir jedoch näher die Folgen, die mit einem
solchen, scheinbar natürlichen und gerechten Verfahren un-
vermeidlich verbunden seyn würden. Hier müssen wir vor
Allem anerkennen, daß sehr häufig die Entscheidung eines
Rechtsstreits ungemein zweifelhaft seyn kann, bald wegen
einer streitigen Rechtsregel, bald wegen ungewisser That-
sachen, bald weil die Thatsachen in ganz verschiedener
Weise unter die Rechtsregeln bezogen werden können. Da-
her würde es oft geschehen können, daß ein richterliches

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§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.

Daß aber das richterliche Urtheil eine ſolche Rückwir-
kung auf den Inhalt der Rechte ausübt, wie es oben als
die Aufgabe des gegenwärtigen Abſchnitts bezeichnet worden
iſt, das verſteht ſich keinesweges von ſelbſt, und iſt nicht
etwa eine aus dem Begriff des Richteramtes abzuleitende
natürliche oder nothwendige Folge. Aus dieſem Begriff
folgt nur, daß jeder Rechtsſtreit entſchieden, und daß dieſe
Entſcheidung durch äußere Macht, ſelbſt gegen den Willen
der unterliegenden Partei, zur Ausführung gebracht werde.
Wenn aber in irgend einem ſpäteren Rechtsſtreit die Rich-
tigkeit des früheren Urtheils in Zweifel gezogen wird, ſo
ſcheint es natürlich, eine neue Prüfung vorzunehmen.
Wird dabei das Urtheil als ein irriges erkannt (ſey es von
demſelben oder von einem anderen Richter), ſo ſcheint es
eine einfache Forderung der Gerechtigkeit, den früheren
Irrthum zu berichtigen, und das begangene Unrecht gut
zu machen, indem das zuletzt erkannte wahre Recht geltend
gemacht wird.

Betrachten wir jedoch näher die Folgen, die mit einem
ſolchen, ſcheinbar natürlichen und gerechten Verfahren un-
vermeidlich verbunden ſeyn würden. Hier müſſen wir vor
Allem anerkennen, daß ſehr häufig die Entſcheidung eines
Rechtsſtreits ungemein zweifelhaft ſeyn kann, bald wegen
einer ſtreitigen Rechtsregel, bald wegen ungewiſſer That-
ſachen, bald weil die Thatſachen in ganz verſchiedener
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her würde es oft geſchehen können, daß ein richterliches

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[259/0277] §. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung. Daß aber das richterliche Urtheil eine ſolche Rückwir- kung auf den Inhalt der Rechte ausübt, wie es oben als die Aufgabe des gegenwärtigen Abſchnitts bezeichnet worden iſt, das verſteht ſich keinesweges von ſelbſt, und iſt nicht etwa eine aus dem Begriff des Richteramtes abzuleitende natürliche oder nothwendige Folge. Aus dieſem Begriff folgt nur, daß jeder Rechtsſtreit entſchieden, und daß dieſe Entſcheidung durch äußere Macht, ſelbſt gegen den Willen der unterliegenden Partei, zur Ausführung gebracht werde. Wenn aber in irgend einem ſpäteren Rechtsſtreit die Rich- tigkeit des früheren Urtheils in Zweifel gezogen wird, ſo ſcheint es natürlich, eine neue Prüfung vorzunehmen. Wird dabei das Urtheil als ein irriges erkannt (ſey es von demſelben oder von einem anderen Richter), ſo ſcheint es eine einfache Forderung der Gerechtigkeit, den früheren Irrthum zu berichtigen, und das begangene Unrecht gut zu machen, indem das zuletzt erkannte wahre Recht geltend gemacht wird. Betrachten wir jedoch näher die Folgen, die mit einem ſolchen, ſcheinbar natürlichen und gerechten Verfahren un- vermeidlich verbunden ſeyn würden. Hier müſſen wir vor Allem anerkennen, daß ſehr häufig die Entſcheidung eines Rechtsſtreits ungemein zweifelhaft ſeyn kann, bald wegen einer ſtreitigen Rechtsregel, bald wegen ungewiſſer That- ſachen, bald weil die Thatſachen in ganz verſchiedener Weiſe unter die Rechtsregeln bezogen werden können. Da- her würde es oft geſchehen können, daß ein richterliches 17*

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system06_1847/277>, abgerufen am 27.04.2024.