Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_089.001
bei der Unmittelbarkeit ursprünglicher Natur treten diese psc_089.002
Worte auf seine Lippen und erhöhen seine Freude, indem sie psc_089.003
laut werden. Eine complicirte, verwickelte Freudenvorstellung psc_089.004
wird durch Aussprechen explicirt im eigentlichsten Sinn: psc_089.005
gleichsam auseinander gewickelt; jede einzelne componirende psc_089.006
Vorstellung wirkt durch isolirte Hervorhebung noch viel psc_089.007
stärker u. s. w. Vollends wenn Reize des Klanges, des psc_089.008
Rhythmus echt=sinnlich erfreuend hinzutreten! Da ist also psc_089.009
Freude, Vergnügen, das zum Ausdruck strebt: dies ist der psc_089.010
Keim von lyrischen Gedichten. Sehen Freunde zu, sind sie psc_089.011
Augen- und Ohrenzeugen, so wird die Freude sich ihnen mittheilen, psc_089.012
wenn sie anders nicht gänzlich innerlich abgewandt psc_089.013
sind: wenn in ihrem Jnnern die Freude über die Schwelle psc_089.014
kommen kann. Jn solcher Theilnahme haben wir den Keim psc_089.015
der Theilnahme an lyrischen Dichtungen, der Wirkung lyrischer psc_089.016
Dichtung auf das Publicum, wobei dann außer der psc_089.017
Freude, die im Aussprechen des Gefühls besteht, sich noch psc_089.018
die Freude zeigt, Andern Freude gemacht zu haben.

psc_089.019

Ein anderes ist ein lyrisches Gedicht, Liebeswerben ausdrückend, psc_089.020
Liebessehnsucht erweckend -- sprachliche Ausbildung psc_089.021
uralter Lockrufe, die Vorstellung des Liebesgenusses zum psc_089.022
voraus erweckend, die Reize des Sprachklangs und Rhythmus psc_089.023
hinzufügend. Auch dies ist eine Gattung, bei der wir uns psc_089.024
ganz innerhalb des alten schon bekannten Kreises halten; psc_089.025
aber sie vertritt ein neues Element lyrischer Poesie, gewiß psc_089.026
eins der stärksten. Es gesellt sich hier zu dem lyrischen Bedürfniß psc_089.027
des Aussprechens noch eine Zweckmäßigkeit: die psc_089.028
Möglichkeit, daß durch dies Aussprechen der Zweck leichter

psc_089.001
bei der Unmittelbarkeit ursprünglicher Natur treten diese psc_089.002
Worte auf seine Lippen und erhöhen seine Freude, indem sie psc_089.003
laut werden. Eine complicirte, verwickelte Freudenvorstellung psc_089.004
wird durch Aussprechen explicirt im eigentlichsten Sinn: psc_089.005
gleichsam auseinander gewickelt; jede einzelne componirende psc_089.006
Vorstellung wirkt durch isolirte Hervorhebung noch viel psc_089.007
stärker u. s. w. Vollends wenn Reize des Klanges, des psc_089.008
Rhythmus echt=sinnlich erfreuend hinzutreten! Da ist also psc_089.009
Freude, Vergnügen, das zum Ausdruck strebt: dies ist der psc_089.010
Keim von lyrischen Gedichten. Sehen Freunde zu, sind sie psc_089.011
Augen- und Ohrenzeugen, so wird die Freude sich ihnen mittheilen, psc_089.012
wenn sie anders nicht gänzlich innerlich abgewandt psc_089.013
sind: wenn in ihrem Jnnern die Freude über die Schwelle psc_089.014
kommen kann. Jn solcher Theilnahme haben wir den Keim psc_089.015
der Theilnahme an lyrischen Dichtungen, der Wirkung lyrischer psc_089.016
Dichtung auf das Publicum, wobei dann außer der psc_089.017
Freude, die im Aussprechen des Gefühls besteht, sich noch psc_089.018
die Freude zeigt, Andern Freude gemacht zu haben.

psc_089.019

  Ein anderes ist ein lyrisches Gedicht, Liebeswerben ausdrückend, psc_089.020
Liebessehnsucht erweckend — sprachliche Ausbildung psc_089.021
uralter Lockrufe, die Vorstellung des Liebesgenusses zum psc_089.022
voraus erweckend, die Reize des Sprachklangs und Rhythmus psc_089.023
hinzufügend. Auch dies ist eine Gattung, bei der wir uns psc_089.024
ganz innerhalb des alten schon bekannten Kreises halten; psc_089.025
aber sie vertritt ein neues Element lyrischer Poesie, gewiß psc_089.026
eins der stärksten. Es gesellt sich hier zu dem lyrischen Bedürfniß psc_089.027
des Aussprechens noch eine Zweckmäßigkeit: die psc_089.028
Möglichkeit, daß durch dies Aussprechen der Zweck leichter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0105" n="89"/><lb n="psc_089.001"/>
bei der Unmittelbarkeit ursprünglicher Natur treten diese <lb n="psc_089.002"/>
Worte auf seine Lippen und erhöhen seine Freude, indem sie <lb n="psc_089.003"/>
laut werden. Eine complicirte, verwickelte Freudenvorstellung <lb n="psc_089.004"/>
wird durch Aussprechen explicirt im eigentlichsten Sinn: <lb n="psc_089.005"/>
gleichsam auseinander gewickelt; jede einzelne componirende <lb n="psc_089.006"/>
Vorstellung wirkt durch isolirte Hervorhebung noch viel <lb n="psc_089.007"/>
stärker u. s. w. Vollends wenn Reize des Klanges, des <lb n="psc_089.008"/>
Rhythmus echt=sinnlich erfreuend hinzutreten! Da ist also <lb n="psc_089.009"/>
Freude, Vergnügen, das zum Ausdruck strebt: dies ist der <lb n="psc_089.010"/>
Keim von <hi rendition="#g">lyrischen Gedichten.</hi> Sehen Freunde zu, sind sie <lb n="psc_089.011"/>
Augen- und Ohrenzeugen, so wird die Freude sich ihnen mittheilen, <lb n="psc_089.012"/>
wenn sie anders nicht gänzlich innerlich abgewandt <lb n="psc_089.013"/>
sind: wenn in ihrem Jnnern die Freude über die Schwelle <lb n="psc_089.014"/>
kommen kann. Jn solcher Theilnahme haben wir den Keim <lb n="psc_089.015"/>
der Theilnahme an lyrischen Dichtungen, der Wirkung lyrischer <lb n="psc_089.016"/>
Dichtung auf das Publicum, wobei dann außer der <lb n="psc_089.017"/>
Freude, die im Aussprechen des Gefühls besteht, sich noch <lb n="psc_089.018"/>
die Freude zeigt, Andern Freude gemacht zu haben.</p>
          <lb n="psc_089.019"/>
          <p>  Ein anderes ist ein lyrisches Gedicht, Liebeswerben ausdrückend, <lb n="psc_089.020"/>
Liebessehnsucht erweckend &#x2014; sprachliche Ausbildung <lb n="psc_089.021"/>
uralter Lockrufe, die Vorstellung des Liebesgenusses zum <lb n="psc_089.022"/>
voraus erweckend, die Reize des Sprachklangs und Rhythmus <lb n="psc_089.023"/>
hinzufügend. Auch dies ist eine Gattung, bei der wir uns <lb n="psc_089.024"/>
ganz innerhalb des alten schon bekannten Kreises halten; <lb n="psc_089.025"/>
aber sie vertritt ein neues Element lyrischer Poesie, gewiß <lb n="psc_089.026"/>
eins der stärksten. Es gesellt sich hier zu dem lyrischen Bedürfniß <lb n="psc_089.027"/>
des Aussprechens noch eine Zweckmäßigkeit: die <lb n="psc_089.028"/>
Möglichkeit, daß durch dies Aussprechen der Zweck leichter
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0105] psc_089.001 bei der Unmittelbarkeit ursprünglicher Natur treten diese psc_089.002 Worte auf seine Lippen und erhöhen seine Freude, indem sie psc_089.003 laut werden. Eine complicirte, verwickelte Freudenvorstellung psc_089.004 wird durch Aussprechen explicirt im eigentlichsten Sinn: psc_089.005 gleichsam auseinander gewickelt; jede einzelne componirende psc_089.006 Vorstellung wirkt durch isolirte Hervorhebung noch viel psc_089.007 stärker u. s. w. Vollends wenn Reize des Klanges, des psc_089.008 Rhythmus echt=sinnlich erfreuend hinzutreten! Da ist also psc_089.009 Freude, Vergnügen, das zum Ausdruck strebt: dies ist der psc_089.010 Keim von lyrischen Gedichten. Sehen Freunde zu, sind sie psc_089.011 Augen- und Ohrenzeugen, so wird die Freude sich ihnen mittheilen, psc_089.012 wenn sie anders nicht gänzlich innerlich abgewandt psc_089.013 sind: wenn in ihrem Jnnern die Freude über die Schwelle psc_089.014 kommen kann. Jn solcher Theilnahme haben wir den Keim psc_089.015 der Theilnahme an lyrischen Dichtungen, der Wirkung lyrischer psc_089.016 Dichtung auf das Publicum, wobei dann außer der psc_089.017 Freude, die im Aussprechen des Gefühls besteht, sich noch psc_089.018 die Freude zeigt, Andern Freude gemacht zu haben. psc_089.019   Ein anderes ist ein lyrisches Gedicht, Liebeswerben ausdrückend, psc_089.020 Liebessehnsucht erweckend — sprachliche Ausbildung psc_089.021 uralter Lockrufe, die Vorstellung des Liebesgenusses zum psc_089.022 voraus erweckend, die Reize des Sprachklangs und Rhythmus psc_089.023 hinzufügend. Auch dies ist eine Gattung, bei der wir uns psc_089.024 ganz innerhalb des alten schon bekannten Kreises halten; psc_089.025 aber sie vertritt ein neues Element lyrischer Poesie, gewiß psc_089.026 eins der stärksten. Es gesellt sich hier zu dem lyrischen Bedürfniß psc_089.027 des Aussprechens noch eine Zweckmäßigkeit: die psc_089.028 Möglichkeit, daß durch dies Aussprechen der Zweck leichter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/105
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/105>, abgerufen am 26.04.2024.