Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_099.001
das komisch wirken kann, fällt selbstverständlich unter die psc_099.002
vorigen Betrachtungen über das Vergnügen des Lachens.

psc_099.003

5) Das Vergnügen, das wir an der darstellenden Nachahmung psc_099.004
des Häßlichen, des Schmerzlichen, des Todes empfinden, psc_099.005
indem wir die Richtigkeit der Darstellung controliren, die psc_099.006
Darstellung mit dem Original vergleichen -- dieser aristotelische psc_099.007
Gesichtspunct kommt natürlich auch hier als einer psc_099.008
neben andern in Betracht, setzt aber schon ein intelligentes, psc_099.009
lebenserfahrenes, bewußtes Publicum voraus; ein naives psc_099.010
Publicum auch von heut ist nicht im Stande, dies Vergnügen psc_099.011
zu würdigen.

psc_099.012

6) Das Vergnügen, welches ich empfinde, wenn ich psc_099.013
etwas Unbekanntes dargestellt sehe, das Vergnügen der befriedigten psc_099.014
Wißbegierde, wenn ich z. B. nie einen Wahnsinnigen, psc_099.015
wenn ich nie einen Todten gesehen habe und nun zum psc_099.016
ersten Mal, etwa auf der Bühne oder in einer anschaulichen psc_099.017
Erzählung, den Wahnsinn, das Sterben vor mir sehe, ist psc_099.018
gewiß auch ein Element des Vergnügens, das hier mitspielen psc_099.019
kann, aber gewiß so wenig als das unter 5) besprochene ein psc_099.020
ursprüngliches und altes.

psc_099.021

7) Das Unangenehme, das einem Andern begegnet, psc_099.022
kann für mich ein Angenehmes sein: der Triumphgesang psc_099.023
über erschlagene Feinde, der Opfergesang bei der Schlachtung psc_099.024
gefangener Feinde, der Schmausgesang der Menschenfresser psc_099.025
mag leicht zu den uralten Gattungen der Poesie gehören, psc_099.026
obgleich ich nur die erstere Gattung nachweisen kann. Da psc_099.027
ist ja auch die Vorstellung des Todes vorhanden, großes psc_099.028
Sterben, ungeheure Verwüstung, massenhafte Vernichtung;

psc_099.001
das komisch wirken kann, fällt selbstverständlich unter die psc_099.002
vorigen Betrachtungen über das Vergnügen des Lachens.

psc_099.003

  5) Das Vergnügen, das wir an der darstellenden Nachahmung psc_099.004
des Häßlichen, des Schmerzlichen, des Todes empfinden, psc_099.005
indem wir die Richtigkeit der Darstellung controliren, die psc_099.006
Darstellung mit dem Original vergleichen — dieser aristotelische psc_099.007
Gesichtspunct kommt natürlich auch hier als einer psc_099.008
neben andern in Betracht, setzt aber schon ein intelligentes, psc_099.009
lebenserfahrenes, bewußtes Publicum voraus; ein naives psc_099.010
Publicum auch von heut ist nicht im Stande, dies Vergnügen psc_099.011
zu würdigen.

psc_099.012

  6) Das Vergnügen, welches ich empfinde, wenn ich psc_099.013
etwas Unbekanntes dargestellt sehe, das Vergnügen der befriedigten psc_099.014
Wißbegierde, wenn ich z. B. nie einen Wahnsinnigen, psc_099.015
wenn ich nie einen Todten gesehen habe und nun zum psc_099.016
ersten Mal, etwa auf der Bühne oder in einer anschaulichen psc_099.017
Erzählung, den Wahnsinn, das Sterben vor mir sehe, ist psc_099.018
gewiß auch ein Element des Vergnügens, das hier mitspielen psc_099.019
kann, aber gewiß so wenig als das unter 5) besprochene ein psc_099.020
ursprüngliches und altes.

psc_099.021

  7) Das Unangenehme, das einem Andern begegnet, psc_099.022
kann für mich ein Angenehmes sein: der Triumphgesang psc_099.023
über erschlagene Feinde, der Opfergesang bei der Schlachtung psc_099.024
gefangener Feinde, der Schmausgesang der Menschenfresser psc_099.025
mag leicht zu den uralten Gattungen der Poesie gehören, psc_099.026
obgleich ich nur die erstere Gattung nachweisen kann. Da psc_099.027
ist ja auch die Vorstellung des Todes vorhanden, großes psc_099.028
Sterben, ungeheure Verwüstung, massenhafte Vernichtung;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0115" n="99"/><lb n="psc_099.001"/>
das komisch wirken kann, fällt selbstverständlich unter die <lb n="psc_099.002"/>
vorigen Betrachtungen über das Vergnügen des Lachens.</p>
          <lb n="psc_099.003"/>
          <p>  5) Das Vergnügen, das wir an der darstellenden Nachahmung <lb n="psc_099.004"/>
des Häßlichen, des Schmerzlichen, des Todes empfinden, <lb n="psc_099.005"/>
indem wir die Richtigkeit der Darstellung controliren, die <lb n="psc_099.006"/>
Darstellung mit dem Original vergleichen &#x2014; dieser aristotelische <lb n="psc_099.007"/>
Gesichtspunct kommt natürlich auch hier als einer <lb n="psc_099.008"/>
neben andern in Betracht, setzt aber schon ein intelligentes, <lb n="psc_099.009"/>
lebenserfahrenes, bewußtes Publicum voraus; ein naives <lb n="psc_099.010"/>
Publicum auch von heut ist nicht im Stande, dies Vergnügen <lb n="psc_099.011"/>
zu würdigen.</p>
          <lb n="psc_099.012"/>
          <p>  6) Das Vergnügen, welches ich empfinde, wenn ich <lb n="psc_099.013"/>
etwas Unbekanntes dargestellt sehe, das Vergnügen der befriedigten <lb n="psc_099.014"/>
Wißbegierde, wenn ich z. B. nie einen Wahnsinnigen, <lb n="psc_099.015"/>
wenn ich nie einen Todten gesehen habe und nun zum <lb n="psc_099.016"/>
ersten Mal, etwa auf der Bühne oder in einer anschaulichen <lb n="psc_099.017"/>
Erzählung, den Wahnsinn, das Sterben vor mir sehe, ist <lb n="psc_099.018"/>
gewiß auch ein Element des Vergnügens, das hier mitspielen <lb n="psc_099.019"/>
kann, aber gewiß so wenig als das unter 5) besprochene ein <lb n="psc_099.020"/>
ursprüngliches und altes.</p>
          <lb n="psc_099.021"/>
          <p>  7) Das Unangenehme, das einem Andern begegnet, <lb n="psc_099.022"/>
kann für mich ein Angenehmes sein: der Triumphgesang <lb n="psc_099.023"/>
über erschlagene Feinde, der Opfergesang bei der Schlachtung <lb n="psc_099.024"/>
gefangener Feinde, der Schmausgesang der Menschenfresser <lb n="psc_099.025"/>
mag leicht zu den uralten Gattungen der Poesie gehören, <lb n="psc_099.026"/>
obgleich ich nur die erstere Gattung nachweisen kann. Da <lb n="psc_099.027"/>
ist ja auch die Vorstellung des Todes vorhanden, großes <lb n="psc_099.028"/>
Sterben, ungeheure Verwüstung, massenhafte Vernichtung;
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99/0115] psc_099.001 das komisch wirken kann, fällt selbstverständlich unter die psc_099.002 vorigen Betrachtungen über das Vergnügen des Lachens. psc_099.003   5) Das Vergnügen, das wir an der darstellenden Nachahmung psc_099.004 des Häßlichen, des Schmerzlichen, des Todes empfinden, psc_099.005 indem wir die Richtigkeit der Darstellung controliren, die psc_099.006 Darstellung mit dem Original vergleichen — dieser aristotelische psc_099.007 Gesichtspunct kommt natürlich auch hier als einer psc_099.008 neben andern in Betracht, setzt aber schon ein intelligentes, psc_099.009 lebenserfahrenes, bewußtes Publicum voraus; ein naives psc_099.010 Publicum auch von heut ist nicht im Stande, dies Vergnügen psc_099.011 zu würdigen. psc_099.012   6) Das Vergnügen, welches ich empfinde, wenn ich psc_099.013 etwas Unbekanntes dargestellt sehe, das Vergnügen der befriedigten psc_099.014 Wißbegierde, wenn ich z. B. nie einen Wahnsinnigen, psc_099.015 wenn ich nie einen Todten gesehen habe und nun zum psc_099.016 ersten Mal, etwa auf der Bühne oder in einer anschaulichen psc_099.017 Erzählung, den Wahnsinn, das Sterben vor mir sehe, ist psc_099.018 gewiß auch ein Element des Vergnügens, das hier mitspielen psc_099.019 kann, aber gewiß so wenig als das unter 5) besprochene ein psc_099.020 ursprüngliches und altes. psc_099.021   7) Das Unangenehme, das einem Andern begegnet, psc_099.022 kann für mich ein Angenehmes sein: der Triumphgesang psc_099.023 über erschlagene Feinde, der Opfergesang bei der Schlachtung psc_099.024 gefangener Feinde, der Schmausgesang der Menschenfresser psc_099.025 mag leicht zu den uralten Gattungen der Poesie gehören, psc_099.026 obgleich ich nur die erstere Gattung nachweisen kann. Da psc_099.027 ist ja auch die Vorstellung des Todes vorhanden, großes psc_099.028 Sterben, ungeheure Verwüstung, massenhafte Vernichtung;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/115
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/115>, abgerufen am 26.04.2024.