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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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er selbst des Schreibens unkundig ist oder nicht. So hat das psc_178.002
Dictiren auf Goethes Prosa gewirkt.

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Weiterhin ergiebt sich der Unterschied, ob der Dichter psc_178.004
Fachmann oder Dilettant ist; z. B. bei den Minnesängern psc_178.005
eine wichtige Verschiedenheit. Dann das Verhältniß zur psc_178.006
Sittlichkeit.

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Fernerhin Verschiedenheiten körperlicher Beschaffenheit psc_178.008
(blind oder sehend) oder des Temperaments (melancholisch psc_178.009
oder sanguinisch oder cholerisch oder phlegmatisch).

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Die Verschiedenheiten der Menschen überhaupt können psc_178.011
den Dichter individualisiren und in dem eigenthümlichen psc_178.012
Stil seiner Producte, d. h. in der Eigenthümlichkeit seiner psc_178.013
Schriften, zur Erscheinung kommen. Hier treffen wir das psc_178.014
Wort Stil in seiner ersten Bedeutung: der persönliche Stil psc_178.015
eines Schriftstellers ist eben die Art, wie die Jndividualität psc_178.016
in seinen Schriften zum Ausdruck kommt, überall, sogar in psc_178.017
der Orthographie, z. B. beim jungen Goethe; ferner im psc_178.018
Versmaß, im Satzbau, ja in der Lautform und dem Wortgebrauch, psc_178.019
sofern ein bestimmtes Mischungsverhältniß zwischen psc_178.020
Dialekt und Schriftsprache sich geltend macht -- kurz die psc_178.021
ganze individuelle Grammatik und Metrik kann hierher gezogen psc_178.022
werden. Vollends die feineren, verborgenen Processe des psc_178.023
Schaffens, das ganze dichterische Geschäft und dessen Verlauf psc_178.024
vermögen dazu zu dienen. Schon auf dem Gebiet des Stils psc_178.025
ist die Eintheilung unendlich. Es wäre aber dennoch ganz psc_178.026
nützlich, allgemeine Schemata der Charakteristik zu entwerfen.

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Jch nenne ein oberflächliches Buch, weil es für alle psc_178.028
diese Fragen das einzige mir bekannte seiner Art ist:

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er selbst des Schreibens unkundig ist oder nicht. So hat das psc_178.002
Dictiren auf Goethes Prosa gewirkt.

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  Weiterhin ergiebt sich der Unterschied, ob der Dichter psc_178.004
Fachmann oder Dilettant ist; z. B. bei den Minnesängern psc_178.005
eine wichtige Verschiedenheit. Dann das Verhältniß zur psc_178.006
Sittlichkeit.

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  Fernerhin Verschiedenheiten körperlicher Beschaffenheit psc_178.008
(blind oder sehend) oder des Temperaments (melancholisch psc_178.009
oder sanguinisch oder cholerisch oder phlegmatisch).

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  Die Verschiedenheiten der Menschen überhaupt können psc_178.011
den Dichter individualisiren und in dem eigenthümlichen psc_178.012
Stil seiner Producte, d. h. in der Eigenthümlichkeit seiner psc_178.013
Schriften, zur Erscheinung kommen. Hier treffen wir das psc_178.014
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in seinen Schriften zum Ausdruck kommt, überall, sogar in psc_178.017
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Dialekt und Schriftsprache sich geltend macht — kurz die psc_178.021
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ist die Eintheilung unendlich. Es wäre aber dennoch ganz psc_178.026
nützlich, allgemeine Schemata der Charakteristik zu entwerfen.

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[178/0194] psc_178.001 er selbst des Schreibens unkundig ist oder nicht. So hat das psc_178.002 Dictiren auf Goethes Prosa gewirkt. psc_178.003   Weiterhin ergiebt sich der Unterschied, ob der Dichter psc_178.004 Fachmann oder Dilettant ist; z. B. bei den Minnesängern psc_178.005 eine wichtige Verschiedenheit. Dann das Verhältniß zur psc_178.006 Sittlichkeit. psc_178.007   Fernerhin Verschiedenheiten körperlicher Beschaffenheit psc_178.008 (blind oder sehend) oder des Temperaments (melancholisch psc_178.009 oder sanguinisch oder cholerisch oder phlegmatisch). psc_178.010   Die Verschiedenheiten der Menschen überhaupt können psc_178.011 den Dichter individualisiren und in dem eigenthümlichen psc_178.012 Stil seiner Producte, d. h. in der Eigenthümlichkeit seiner psc_178.013 Schriften, zur Erscheinung kommen. Hier treffen wir das psc_178.014 Wort Stil in seiner ersten Bedeutung: der persönliche Stil psc_178.015 eines Schriftstellers ist eben die Art, wie die Jndividualität psc_178.016 in seinen Schriften zum Ausdruck kommt, überall, sogar in psc_178.017 der Orthographie, z. B. beim jungen Goethe; ferner im psc_178.018 Versmaß, im Satzbau, ja in der Lautform und dem Wortgebrauch, psc_178.019 sofern ein bestimmtes Mischungsverhältniß zwischen psc_178.020 Dialekt und Schriftsprache sich geltend macht — kurz die psc_178.021 ganze individuelle Grammatik und Metrik kann hierher gezogen psc_178.022 werden. Vollends die feineren, verborgenen Processe des psc_178.023 Schaffens, das ganze dichterische Geschäft und dessen Verlauf psc_178.024 vermögen dazu zu dienen. Schon auf dem Gebiet des Stils psc_178.025 ist die Eintheilung unendlich. Es wäre aber dennoch ganz psc_178.026 nützlich, allgemeine Schemata der Charakteristik zu entwerfen. psc_178.027   Jch nenne ein oberflächliches Buch, weil es für alle psc_178.028 diese Fragen das einzige mir bekannte seiner Art ist:

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/194>, abgerufen am 26.04.2024.