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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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charakteristische Auffassung verstehe. Man kann nicht darstellen psc_227.002
ohne auszuwählen, wenigstens nicht poetisch darstellen. psc_227.003
Die Poesie muß also auswählen; die specifische Auffassung psc_227.004
durch den Dichter ist wieder ziemlich willkürlich. Die Wissenschaft psc_227.005
muß im Princip auf Erschöpfung ausgehen, die Poesie psc_227.006
braucht es nicht. Aber die Wissenschaft generalisirt: sie bleibt psc_227.007
nicht beim Jndividuum stehen, sondern steigt auf zu Arten, psc_227.008
Klassen, Gattungen. Die Wissenschaft muß also genau psc_227.009
beobachten, sie müßte etwa einen Käfer im Einzelnen nach psc_227.010
Gestalt, Sinneswerkzeugen u. s. w. beschreiben; aber wo sie viel psc_227.011
Ähnlichkeiten findet, bringt sie das eine Jndividuum mit psc_227.012
andern in Zusammenhang. Nun kann die Poesie, die es in psc_227.013
der Regel mit Jndividuen zu thun hat, annäherungsweise psc_227.014
dasselbe thun, gleichsam von einem wissenschaftlichen Gesichtspunct psc_227.015
herauswählen, indem sie an Jndividuen nur solche Züge psc_227.016
hervorhebt, welche das einzelne Jndividuum mit vielen theilt. psc_227.017
Vater, Sohn sind die meisten, bezw. alle Menschen. Die Auffassung psc_227.018
eines Jndividuums als "Vater" ist also zugleich eine Einordnung psc_227.019
in eine Gattung, eine Typisirung, ein Act der psc_227.020
Generalisirung, also ein Verfahren, das auch in der Wissenschaft psc_227.021
begegnet. Das Aufsteigen kann noch weiter gehen. psc_227.022
Es kann das Jndividuum ganz allgemein als Mensch genommen psc_227.023
werden, oder mit Anknüpfung an etwas Allgemeineres, psc_227.024
z. B. als tugendhaft oder lasterhaft.

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Darstellen ist eng verwandt mit Forschen: ein Factor ist psc_227.026
der Gegenstand, ein anderer Factor der Darsteller oder psc_227.027
Forscher. Man kann dabei der Natur der Dinge treu zu psc_227.028
bleiben suchen, ohne Specielles mit aufzunehmen. Aber damit

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charakteristische Auffassung verstehe. Man kann nicht darstellen psc_227.002
ohne auszuwählen, wenigstens nicht poetisch darstellen. psc_227.003
Die Poesie muß also auswählen; die specifische Auffassung psc_227.004
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muß im Princip auf Erschöpfung ausgehen, die Poesie psc_227.006
braucht es nicht. Aber die Wissenschaft generalisirt: sie bleibt psc_227.007
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Klassen, Gattungen. Die Wissenschaft muß also genau psc_227.009
beobachten, sie müßte etwa einen Käfer im Einzelnen nach psc_227.010
Gestalt, Sinneswerkzeugen u. s. w. beschreiben; aber wo sie viel psc_227.011
Ähnlichkeiten findet, bringt sie das eine Jndividuum mit psc_227.012
andern in Zusammenhang. Nun kann die Poesie, die es in psc_227.013
der Regel mit Jndividuen zu thun hat, annäherungsweise psc_227.014
dasselbe thun, gleichsam von einem wissenschaftlichen Gesichtspunct psc_227.015
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hervorhebt, welche das einzelne Jndividuum mit vielen theilt. psc_227.017
Vater, Sohn sind die meisten, bezw. alle Menschen. Die Auffassung psc_227.018
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Generalisirung, also ein Verfahren, das auch in der Wissenschaft psc_227.021
begegnet. Das Aufsteigen kann noch weiter gehen. psc_227.022
Es kann das Jndividuum ganz allgemein als Mensch genommen psc_227.023
werden, oder mit Anknüpfung an etwas Allgemeineres, psc_227.024
z. B. als tugendhaft oder lasterhaft.

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  Darstellen ist eng verwandt mit Forschen: ein Factor ist psc_227.026
der Gegenstand, ein anderer Factor der Darsteller oder psc_227.027
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[227/0243] psc_227.001 charakteristische Auffassung verstehe. Man kann nicht darstellen psc_227.002 ohne auszuwählen, wenigstens nicht poetisch darstellen. psc_227.003 Die Poesie muß also auswählen; die specifische Auffassung psc_227.004 durch den Dichter ist wieder ziemlich willkürlich. Die Wissenschaft psc_227.005 muß im Princip auf Erschöpfung ausgehen, die Poesie psc_227.006 braucht es nicht. Aber die Wissenschaft generalisirt: sie bleibt psc_227.007 nicht beim Jndividuum stehen, sondern steigt auf zu Arten, psc_227.008 Klassen, Gattungen. Die Wissenschaft muß also genau psc_227.009 beobachten, sie müßte etwa einen Käfer im Einzelnen nach psc_227.010 Gestalt, Sinneswerkzeugen u. s. w. beschreiben; aber wo sie viel psc_227.011 Ähnlichkeiten findet, bringt sie das eine Jndividuum mit psc_227.012 andern in Zusammenhang. Nun kann die Poesie, die es in psc_227.013 der Regel mit Jndividuen zu thun hat, annäherungsweise psc_227.014 dasselbe thun, gleichsam von einem wissenschaftlichen Gesichtspunct psc_227.015 herauswählen, indem sie an Jndividuen nur solche Züge psc_227.016 hervorhebt, welche das einzelne Jndividuum mit vielen theilt. psc_227.017 Vater, Sohn sind die meisten, bezw. alle Menschen. Die Auffassung psc_227.018 eines Jndividuums als „Vater“ ist also zugleich eine Einordnung psc_227.019 in eine Gattung, eine Typisirung, ein Act der psc_227.020 Generalisirung, also ein Verfahren, das auch in der Wissenschaft psc_227.021 begegnet. Das Aufsteigen kann noch weiter gehen. psc_227.022 Es kann das Jndividuum ganz allgemein als Mensch genommen psc_227.023 werden, oder mit Anknüpfung an etwas Allgemeineres, psc_227.024 z. B. als tugendhaft oder lasterhaft. psc_227.025   Darstellen ist eng verwandt mit Forschen: ein Factor ist psc_227.026 der Gegenstand, ein anderer Factor der Darsteller oder psc_227.027 Forscher. Man kann dabei der Natur der Dinge treu zu psc_227.028 bleiben suchen, ohne Specielles mit aufzunehmen. Aber damit

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/243>, abgerufen am 26.04.2024.