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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Darstellung zu Stande kommt, müssen die Gegenstände psc_228.002
den Durchgang durch das Jndividuum nehmen: da fragt sich, psc_228.003
wie viel von dem Jndividuum an dem Gegenstande haften psc_228.004
bleibt. Jrgend etwas wird in der Regel vom Anschauer an psc_228.005
dem Angeschauten haften. Aber der Möglichkeit nach kann psc_228.006
man den Fall statuiren, daß gar nichts hafte: dann wäre psc_228.007
die Darstellung vollkommen objectiv. Je mehr von dem auffassenden psc_228.008
Jndividuum daran haftet, desto mehr wird sie subjectiv. psc_228.009
Objectiv und subjectiv sind also die beiden Hauptarten der psc_228.010
inneren Form.

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Jm Ganzen liegt den folgenden Betrachtungen Goethes psc_228.012
Aufsatz: "Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil" psc_228.013
zu Grunde (Hempel 24, 525 f.), vgl. "Aufsätze über Goethe" psc_228.014
S. 298 f.; aber ich habe jetzt Modificationen eintreten psc_228.015
lassen, um schärfer zu sondern. Früher vermischte ich noch dort psc_228.016
und in der "Litteraturgeschichte" für Goethe charakteristische psc_228.017
Stoffwahl und Auffassung, also Kap. 3 und 4 unseres Collegs.

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Dies ist noch zu betonen: Naturalismus, Realismus psc_228.019
u. s. w. werden lässig als Termini für die Stoffwahl verwandt, psc_228.020
weil diese für die Weltanschauung allerdings bezeichnend psc_228.021
ist. Solche Unterschiede sind aber hier nicht gemeint. psc_228.022
Fragen wir nach der poetischen Auffassung der Welt, die psc_228.023
einem Dichter als charakteristisch zuzuschreiben sei, so würde psc_228.024
diese in der Auswahl der Stoffe, die er ausschließlich behandelt psc_228.025
oder die er begünstigt, bestehen. Jst ein Dichter sehr psc_228.026
wählerisch, pflegt er nur zarte und hohe Gefühle und Handlungen, psc_228.027
edle Gesinnungen im siegreichen Kampfe mit den psc_228.028
unedlen zu begünstigen, so nennt man ihn idealistisch. Greift

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Darstellung zu Stande kommt, müssen die Gegenstände psc_228.002
den Durchgang durch das Jndividuum nehmen: da fragt sich, psc_228.003
wie viel von dem Jndividuum an dem Gegenstande haften psc_228.004
bleibt. Jrgend etwas wird in der Regel vom Anschauer an psc_228.005
dem Angeschauten haften. Aber der Möglichkeit nach kann psc_228.006
man den Fall statuiren, daß gar nichts hafte: dann wäre psc_228.007
die Darstellung vollkommen objectiv. Je mehr von dem auffassenden psc_228.008
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Objectiv und subjectiv sind also die beiden Hauptarten der psc_228.010
inneren Form.

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  Jm Ganzen liegt den folgenden Betrachtungen Goethes psc_228.012
Aufsatz: „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“ psc_228.013
zu Grunde (Hempel 24, 525 f.), vgl. „Aufsätze über Goethe“ psc_228.014
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lassen, um schärfer zu sondern. Früher vermischte ich noch dort psc_228.016
und in der „Litteraturgeschichte“ für Goethe charakteristische psc_228.017
Stoffwahl und Auffassung, also Kap. 3 und 4 unseres Collegs.

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  Dies ist noch zu betonen: Naturalismus, Realismus psc_228.019
u. s. w. werden lässig als Termini für die Stoffwahl verwandt, psc_228.020
weil diese für die Weltanschauung allerdings bezeichnend psc_228.021
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Fragen wir nach der poetischen Auffassung der Welt, die psc_228.023
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oder die er begünstigt, bestehen. Jst ein Dichter sehr psc_228.026
wählerisch, pflegt er nur zarte und hohe Gefühle und Handlungen, psc_228.027
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[228/0244] psc_228.001 Darstellung zu Stande kommt, müssen die Gegenstände psc_228.002 den Durchgang durch das Jndividuum nehmen: da fragt sich, psc_228.003 wie viel von dem Jndividuum an dem Gegenstande haften psc_228.004 bleibt. Jrgend etwas wird in der Regel vom Anschauer an psc_228.005 dem Angeschauten haften. Aber der Möglichkeit nach kann psc_228.006 man den Fall statuiren, daß gar nichts hafte: dann wäre psc_228.007 die Darstellung vollkommen objectiv. Je mehr von dem auffassenden psc_228.008 Jndividuum daran haftet, desto mehr wird sie subjectiv. psc_228.009 Objectiv und subjectiv sind also die beiden Hauptarten der psc_228.010 inneren Form. psc_228.011   Jm Ganzen liegt den folgenden Betrachtungen Goethes psc_228.012 Aufsatz: „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“ psc_228.013 zu Grunde (Hempel 24, 525 f.), vgl. „Aufsätze über Goethe“ psc_228.014 S. 298 f.; aber ich habe jetzt Modificationen eintreten psc_228.015 lassen, um schärfer zu sondern. Früher vermischte ich noch dort psc_228.016 und in der „Litteraturgeschichte“ für Goethe charakteristische psc_228.017 Stoffwahl und Auffassung, also Kap. 3 und 4 unseres Collegs. psc_228.018   Dies ist noch zu betonen: Naturalismus, Realismus psc_228.019 u. s. w. werden lässig als Termini für die Stoffwahl verwandt, psc_228.020 weil diese für die Weltanschauung allerdings bezeichnend psc_228.021 ist. Solche Unterschiede sind aber hier nicht gemeint. psc_228.022 Fragen wir nach der poetischen Auffassung der Welt, die psc_228.023 einem Dichter als charakteristisch zuzuschreiben sei, so würde psc_228.024 diese in der Auswahl der Stoffe, die er ausschließlich behandelt psc_228.025 oder die er begünstigt, bestehen. Jst ein Dichter sehr psc_228.026 wählerisch, pflegt er nur zarte und hohe Gefühle und Handlungen, psc_228.027 edle Gesinnungen im siegreichen Kampfe mit den psc_228.028 unedlen zu begünstigen, so nennt man ihn idealistisch. Greift

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/244>, abgerufen am 26.04.2024.